Die Geschichte einer älteren Dame aus Hessen

Jedes Mal, wenn ich hinter Frau Sanders die Tür meines Sprechzimmers schließe, breitet sich eine intensive Traurigkeit in mir aus. So ist es auch heute wieder, und ich muss erst einmal tief atmen, um wieder sprechen zu können. Eine bleierne Schwere lastet auf mir, obwohl ich eben noch mit meinen Kollegen bei einem Kaffee gelacht habe.

Frau Sanders ist 79 Jahre alt und seit etwa drei Jahren meine Patientin. Dass sie aus dem Hessischen kommt, kann sie nicht verbergen, denn sie spricht diesen Dialekt sehr ausgeprägt.

Schon bei unserem ersten Kontakt erzählte sie mir, dass sie nicht ganz freiwillig nach Hamburg gezogen ist. Sie ist ihren Kindern gefolgt, die schon seit vielen Jahren hier wohnen. Ihr Sohn habe ihr klargemacht, dass er sich nicht um sie kümmern könne, falls es ihr einmal schlechter geht und sie dann noch immer weit weg von ihm lebt.

Ich erlebe es häufig, dass Patienten mir aus ihrem Leben berichten. Die Erkrankung scheint dann in den Hintergrund gerückt zu sein. Mir wird von Freude und Leid berichtet, aber nicht im gleichen Maß. Trauer, Wut und Verzweiflung treten häufiger zu Tage, als Freude und Fröhlichkeit. Aber gerade bei Patienten, die ich lange kenne, darf ich mich bei schönen Ereignissen mitfreuen – und muss in schweren Stunden mitleiden.

Frau Sanders erzählte mir bei unseren ersten Terminen wenig aus ihrem Leben. Sie zeigte mir aber ihr sorgfältig geführtes Diabetes-Tagebuch. Dabei waren schon auf den ersten Blick sehr starke Blutzuckerschwankungen zu erkennen. Zwischen leichten Unterzuckerungen und Werten von bis zu 400 mg/dl lag die Schwankungsbreite. Mir war völlig unklar, worin die Ursache liegen konnte.

Technische Probleme wie ein defekter Insulinpen, ein fehlerhaftes Blutzuckermessgerät oder eine sehr stark variable Ernährungsweise konnten rasch ausgeschlossen werden.

Eine weitere Ursache von solchen Blutzuckerschwankungen kann im Bereich der Stellen liegen, in die die Patienten das Insulin spritzen. Wird hier ein Hautareal besonders häufig oder gar ausschließlich benutzt, verändert sich das Unterhautfettgewebe. Das Insulin wird nur noch mit sehr großer Variabilität vom Körper aufgenommen. Starke, nicht vorhersehbare Schwankungen des Blutzuckers sind die Folge.

Bei Frau Sanders lag aber auch dies Problem nicht vor. Sie wechselte die Spritzstellen bei jeder Injektion. Die Hautbefunde waren unauffällig. Die Blutzuckerschwankungen blieben also zunächst rätselhaft.

Etwas veränderte sich aber im Verlauf der Monate. Frau Sanders erzählte mir mehr aus ihrem Leben. Ab dann hielt jene intensive Traurigkeit in mein Sprechzimmer Einzug, die seither meine Termine mit ihr begleitet.

Frau Sanders deutete die schwere Enttäuschung an, die ihr Umzug nach Hamburg für sie war. Sie hatte ihre Freunde in der hessischen Heimat verlassen und gehofft, im Norden im Kontakt mit ihren Kindern und Enkelkindern einen Ersatz zu finden. Diese Hoffnung war schwer enttäuscht worden. Denn Kinder und Enkelkinder führten ihr eigenes Leben. Sie hatten wenig Kontakt zur Großmutter.

Wenn Frau Sanders an Feier- oder Geburtstagen aber bei ihrer Familie gewesen war, war sie bei unserem nächsten Termin deutlich fröhlicher als sonst. Mir kam es vor, als sähe sie sogar hoffnungsvoll in die Zukunft.

Doch das nächste Stimmungstief ließ nicht lange auf sich warten. Ich dachte, dass die Schwankungen, egal ob in der Stimmung oder den Blutzuckerwerten, eine Eigenart meiner Patientin sind. Sie erschienen mir nicht veränderbar.

Mein Eindruck wurde stärker, als Frau Sanders noch auf eine andere Art zu schwanken begann.

Es war an einem Dienstag Anfang Dezember, als Frau Sanders mit mehreren heftigen Blutergüssen im Gesicht zu mir in die Sprechstunde kam. Es war eigentlich einer unserer Diabetes-Kontrolltermine, aber unser Gespräch kam sofort auf die deutlich sichtbaren Verletzungen.

Was war passiert? Frau Sanders konnte es sich selbst nicht erklären, aber plötzlich hatte der Boden unter ihr zu schwanken begonnen. Sie konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Sie war in ihrer Wohnung heftig gestürzt und gleich ins Krankenhaus gefahren worden. Dort wurde sie geröntgt und zum Glück hatte sie sich nichts gebrochen.

Wenn Menschen mit Diabetes stürzen, denke ich als Diabetologe als erstes an zu niedrige Blutzuckerwerte als Ursache. Mein Denken ist hier gebahnt. Gebahnt durch die Erfahrung mit vielen meiner Patienten. Mir wurden schon viele Unfälle berichtet, die sich im Rahmen von Unterzuckerungen ereignet hatten. Teilweise mit schweren Verletzungen als Folge.

Genauso war es mir daher auch bei Frau Sanders ergangen. Vom Sturz zum Gedanken an eine Unterzuckerung war es nur ein kurzer Schritt.

In diesem Fall stimmte er aber nicht. Frau Sanders hatte wenige Minuten vor dem Sturz ihren Blutzucker gemessen und er war deutlich außerhalb der Gefahrenzone für eine Unterzuckerung gewesen. Und auch die wenige Minuten nach dem Sturz eingetroffenen Rettungsassistenten der Feuerwehr Hamburg hatten den Blutzucker getestet. Sie hatten ebenfalls keinen Anhalt für eine Unterzuckerung gehabt.

In der nächsten Zeit berichtete Frau Sanders mir immer wieder von Stürzen. Zumeist gingen sie glimpflich aus, und sie zog sich außer ein paar blauen Flecken nie schwere Verletzungen zu.

Aber die Stürze wurden häufiger, und einmal mussten auch wir in der Praxis Zeugen eines solchen Sturzes werden. Frau Sanders, die immer alleine zu den Terminen bei mir erschien, ging in Begleitung einer Arzthelferin den Flur entlang, als sie plötzlich in sich zusammensackte. Sie war dabei wach und ansprechbar, sank aber in die Arme meiner Mitarbeiterin, die sie vorsichtig zu Boden gleiten ließ. Als ich hinzu kam, wurden bereits Blutdruck und Blutzucker gemessen. Beides war völlig normal.

Was war geschehen? Ich hatte keine Erklärung. Frau Sanders konnte sich auch nach längerem Ausruhen und einer Tasse Kaffee nicht selbständig auf den Beinen halten. Wir riefen einen Krankenwagen, der sie in die nahe Klink brachte.

Wie schon bei mehreren Aufenthalten im Krankenhaus zuvor, konnte auch diesmal die Ursache für die merkwürdigen Kollapszustände von Frau Sanders nicht gefunden werden. Nach wenigen Tagen wurde sie wieder nach Hause entlassen.

Fast jeder Mensch hat schon einmal Schwindel verspürt. Der Schwindel ist dabei ein flüchtiges Symptom und gerade deswegen schwer zu fassen. Zumeist ist er harmlos und verschwindet von selbst wieder.

Patienten mit häufigerem Schwindel leiden an einem Zustand, der plötzlich, unvorhersehbar und nur gelegentlich auftritt. Ein Zusammenhang mit einem inneren oder äußeren Geschehen ist meist nicht erkennbar. Die Belästigung und das Leiden an diesem Zustand wird hierdurch noch verstärkt. Dann gilt es für Patient und Arzt, eine solche Situation auszuhalten.

Genau dies befürchtete ich auch bei Frau Sanders. Aber genau so unverhofft, wie Schwindel und Kollapszustände gekommen waren, verschwanden sie auch wieder.

Ich benötigte einige Termine, um zu bemerken, dass sich seit dem Verschwinden der Kollapszustände noch etwas anderes verändert hatte. Frau Sanders erschien jetzt immer in Begleitung zu den Terminen bei mir. Mal war es der Sohn, der mit ihr kam, mal die Schwiegertochter. Ich erfuhr, dass auch außerhalb der Termine bei mir Kinder und Enkelkinder sich um meine Patientin kümmerten und ihr im Alltag helfen mussten.

Durch vielleicht gar nicht so geheimnisvolle Kräfte war der Schwindel bei Frau Sanders gekommen und wieder gegangen. Die Schwankungen der Blutzuckerwerte blieben ihr und mir aber erhalten.

 

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