Eine schwangere Frau mit hohem Kaliumwert

Kurz vor dem Feierabend komme ich in mein Sprechzimmer und finde auf meinem Schreibtisch einen kleinen gelben Klebezettel vor. Meine Patientin Frau Lindner hat sich gemeldet und bittet mich um einen Rückruf. Ich ahne schon, dass es dringend ist.

Ich kenne Frau Lindner schon etliche Jahre als Patientin. Sie hat einen Typ 1-Diabetes und wohnt im Moment gar nicht in Hamburg. Ihr Mann ist vor einiger Zeit aus beruflichen Gründen nach Essen gezogen, und sie ist ihm gefolgt. Ihre gelegentlichen Besuche in Hamburg verbindet sie immer auch mit einem Termin bei mir in der Praxis. So bin ich, auch aus der Ferne, ihr Diabetologe geblieben.

In den letzten Monaten hatten wir häufiger Kontakt, denn Frau Lindner ist schwanger. Sie erwartet ihr zweites Kind. Deswegen hatten wir regelmäßige Telefontermine, und sie schickte mir vorab immer ihre Blutzuckerwerte per E-Mail. Mit ihrem Diabetes kommt sie auch in dieser Schwangerschaft gut zurecht. Aber nun scheint es doch ein Problem zu geben.

Schwangerschaften bei Frauen mit einem Typ 1-Diabetes sind heute normal. Doch noch vor etwa 40 Jahren wurde ihnen von einer Schwangerschaft grundsätzlich abgeraten. Das Risiko für Mutter und vor allem für das Kind waren einfach zu groß.
Schwere Fehlbildungen traten deutlich häufiger auf als bei Frauen ohne Diabetes. Auch waren die Kinder häufig sehr groß, was die Geburt schwierig und gefährlich machte. Erst seit den 1980er Jahren gibt es die Möglichkeit, dass Patientinnen ihren Blutzucker selbst messen und die Insulindosis daran anpassen können. So können sie die Blutzuckerwerte selbständig in den notwendig engen Grenzen führen.
Wenn dies gelingt, unterscheiden sich die Risiken für Mutter und Kind nicht mehr nennenswert zwischen Frauen mit und ohne Diabetes.

Frau Lindner hat eigentlich immer sehr gute Werte. Aber sie ist besorgt, dass doch etwas schiefgehen könnte. Das war auch in ihrer zweiten Schwangerschaft der Fall. Aber ich konnte sie immer wieder beruhigen, und die Besuche bei ihrer Frauenärztin zeigten, wie sich ein gesundes Kind ganz normal entwickelte.

Nun nutze ich die Gelegenheit, und rufe sie zurück. Sie ist sofort in der Leitung, und ich spürte schon bei ihren ersten Worten, dass etwas vorgefallen sein muss.
„Mit dem Diabetes ist alles in Ordnung“, sagte sie mir. Aber sie hatte am Morgen schlimme Kreislaufprobleme gehabt. Ihr war schwarz vor Augen geworden, und sie konnte sich nicht mehr auf den Beine halten. Im Liegen hatte sie ihre Nachbarin angerufen, die den Rettungsdienst alarmiert hatte.
Beim Eintreffen des Krankenwagens ging es ihr schon wieder deutlich besser. Der junge Rettungssanitäter aber war sehr aufgeregt gewesen und hatte, zur Sicherheit, einen Notarzt hinzugerufen. Nach einer kurzen Behandlung ging es Frau Lindner wieder so gut, dass sie zuhause bleiben und nicht mit ins Krankenhaus fahren wollte.
Als wir mehrere Stunden später telefonierten, ging es ihr wieder sehr gut, und sie hatte den Vorfall schon fast vergessen.

Eben hatte nun bei ihr das Telefon geklingelt. Der Notarzt von vorhin war am Apparat. Er hatte ihr bei seinem Besuch auch eine Blutprobe abgenommen. Der Kaliumwert war deutlich zu hoch. Er hatte von einem Risiko für gefährliche Herzrhythmusstörungen gesprochen und ihr zu einem sofortigen Besuch beim Arzt geraten. Frau Lindner hatte jetzt große Angst. Ich konnte sie durch das Telefon förmlich spüren.

Das Kalium gehört zu den Elektrolyten, die auch Blutsalze genannt werden. Bei gesunden Menschen liegt es in einem sehr engen Bereich. Kalium ist zum Beispiel dafür notwendig, dass die Reizleitung am Herzen richtig funktioniert. Sowohl ein zu hoher als auch ein zu niedriger Kaliumspiegel im Blut kann lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen auslösen.

Bei gesunden Menschen wie Frau Lindner kommt ein zu hoher Kaliumspiegel fast nie vor. Ich hatte einen ganz anderen Verdacht für die Ursache.

Das Blut besteht aus zwei Komponenten. Es gibt das Serum, den flüssigen Anteil des Blutes und die Blutkörperchen. Die engen Grenzen des Kalium-Normalwertes beziehen sich auf das Serum. Denn nur das wirkt auf die Zellen im Körper ein. In den roten Blutkörperchen, den Erythrozyten, herrschen hingegen sehr viel höhere Kaliumkonzentrationen vor. Wenn nun, nach der Abnahme einer Blutprobe, Erythrozyten kaputt gehen, führt dies zu einer deutlichen Zunahme des gemessenen Kaliumspiegels. Aber eben nur in dem Röhrchen, in dem das Blut abgenommen und transportiert wird.
So etwas kann passieren, wenn das Röhrchen nach der Blutentnahme herunterfällt oder versehentlich geschüttelt wird. Fälschlich, also nur im Röhrchen bestehende zu hohe Kaliumwerte erlebe ich in der Praxis häufig.

Ich war mir ziemlich sicher, dass dies auch bei Frau Lindner der Fall war. Die Blutprobe war ihr zuhause abgenommen worden, und das Röhrchen musste dann den Transport ins Krankenhauslabor überstehen. Da kann ein Sturz des Röhrchens leicht passieren.

Neben dem Kaliumwert ist in der Geschichte von Frau Lindner aber etwas ganz anderes deutlich erhöht. Das ist die Angst. Sie hat ebenfalls ein hohes Niveau. Die Ausläufer davon bekam ich zu spüren, als ich Frau Lindners Stimme am Telefon hörte.

Begonnen hatte die Angst mit den Kreislaufproblemen von Frau Lindner. Diese waren so stark, dass sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte und Hilfe holen musste.
Das Gefühl einer drohenden Ohnmacht löst große Angst aus. Sie übertrug sich auf die Nachbarin, die meiner Patienten zu Hilfe kam und schnell den Rettungsdienst alarmierte.

Im Rettungsdienst ist es typisch, dass nach einer Versorgung vor Ort, der Patient mit ins Krankenhaus genommen wird. Hier erfolgen dann weitere Untersuchungen, und die Ärzte dort entscheiden, ob der Patient im Krankenhaus bleiben muss. Empfehlen die Ärzte dies und der Patient möchte aber nach Hause, so muss er unterschreiben, dass er „gegen ausdrücklichen ärztlichen Rat“ die Entlassung wünscht.

Bei Frau Lindner war dies jetzt noch viel früher der Fall. Sie wollte gar nicht erst mit ins Krankenhaus. Den Rettungssanitäter und den Notarzt hat das irritiert. Eine eben noch fast ohnmächtige Schwangere zuhause zu lassen, kam ihnen gefährlich vor. Deswegen hat der Notarzt noch eine Blutprobe abgenommen, was im Rettungsdienst ungewöhnlich ist.

Als sich Stunden später alles wieder beruhigt hatte, kam mit dem Ergebnis der Blutuntersuchung die Angst zurück.

Ich war mir jedoch sicher, dass der hohe Kaliumwert nicht korrekt war. Eine Kontrolle mit einer frischen Blutprobe könnte das beweisen. Diese gab es aber jetzt am frühen Abend nur im Krankenhaus. Frau Lindner hätte sich dorthin auf den Weg machen müssen. Das fand ich übertrieben vorsichtig. Also beruhigte ich meine Patientin und empfahl ihr eine Kontrolle am nächsten Tag.

Ich hatte den Hörer kaum aufgelegt, da passierte in mir etwas Spannendes. Ich bekam Angst. Vor meinem inneren Auge entstand ein Szenario, in dem meine Patientin in der Nacht an Herzrhythmusstörungen starb und ich daran Schuld war.
Ich widerstand dem Impuls, meine Patienten erneut anzurufen und ihr doch den Weg ins Krankenhaus zu empfehlen und konnte mich wieder beruhigen.

Meine Patientin schrieb mir am nächsten Tag eine E-Mail und berichtete von dem völlig normalen Kaliumwert bei der Kontrolluntersuchung.

Wie ansteckend Angst im ärztlichen Alltag sein kann, merkte ich an mir selber und daran, dass ich bei dem normalen Wert aufgeatmet habe.

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