Über eine ungewöhnliche Allianz

Ein Kollege erzählte mir kürzlich von einem merkwürdigen Erlebnis in seiner Praxis. Er hatte Besuch von einem Pharmareferenten gehabt, dessen Firma ein neues Medikament zur Diabetesbehandlung herstellt.

Mein Kollege hatte Informationen über das neue Medikament erwartet und war völlig überrascht, im Gespräch plötzlich mit Vorwürfen konfrontiert zu werden.
Der Pharmareferent wollte von ihm wissen, warum er das neue Medikament so selten einsetze. Sein Regionalleiter habe ihm deswegen schon Vorwürfe gemacht. Überall in Deutschland sei das neue Medikament ein großer Erfolg, nur in seinem Gebiet nicht.

Ich war versucht, die Erlebnisse meines Kollegens als eine Art Entgleisung dieses einen Pharmareferentens abzutun. Mir kamen aber Erinnerungen an ganz ähnliche Erlebnisse in meiner eigenen Praxis.
Hinter diesen Handlungen schien eine Logik zu stecken, die sich mir zunächst nicht erschloss.

Auch bei meinen Patienten kommt das Gespräch häufig auf neue Medikamente. Denn heutzutage wird über neue Therapieoptionen nicht nur in der Fach-, sondern auch in der Laienpresse ausgiebig berichtet.

Mir fällt dabei mein Termin mit Herrn Hartmann aus der vergangenen Woche ein. Bei ihm ist seit fast 15 Jahren ein Typ 2-Diabetes bekannt und seit etwa 10 Jahren nimmt er blutzuckersenkende Medikamente ein. Begonnen haben wir mit nur einer Tablette. Im Verlauf der Jahre sind es vier Tabletten von drei unterschiedlichen Präparaten geworden. Jedesmal wenn der Langzeit-Blutzuckerwert deutlich angestiegen war, hatten wir eine Veränderung der Therapie vorgenommen. Diese Therapie war sehr erfolgreich gewesen. Herr Hartmann hatte seinen HbA1c zumeist in einem günstigen Bereich halten können. In den letzten 6 Monaten war es aber zu einem kräftigen Anstieg der Blutzuckerwerte gekommen. Die Medikamente schienen ihre Wirksamkeit verloren zu haben.

Bei Menschen mit einem Typ 2-Diabetes ist dies eine häufige Situation. Dieser Diabetestyp entwickelt sich langsam. In den ersten Jahren ist der Körper noch in der Lage, das blutzuckersenkende Insulin selbst zu produzieren. Die Behandlung mit Tabletten unterstützt diese Wirkung. Ohne ein gewisses Maß an Insulin im Körper wirkt keines der verfügbaren Medikamente.

Da im Verlauf der Diabeteserkrankung die körpereigene Insulinproduktion langsam sinkt, ist die Behandlung mit Tabletten meist nur etwa 10 Jahre erfolgreich. Von diesem Zeitpunkt an ist dann eine Insulintherapie notwendig.

So war es offensichtlich jetzt auch bei Herrn Hartmann der Fall. Nach meiner Erfahrung war dies der richtige Zeitpunkt, mit einer Insulintherapie zu beginnen.

Herr Hartmann mochte sich aber nicht so recht auf meine Erfahrung verlassen. Er hatte in einer Zeitschrift von einem ganz neuen Medikament gelesen, dessen Wirkung dort sehr positiv geschildert wurde. Es war ganz eindeutig, Herr Hartmann wollte dies neue Medikament ausprobieren und lieber kein Insulin spritzen.

So lief unser Gespräch auf einen kleinen Konflikt zu. Denn ich beharrte auf meiner Position, dass ohne Insulin-Injektionen keine Verbesserung der Blutzuckerwerte zu erzielen sei.
Herr Hartmann fragte mich dann, ob ich vielleicht nur mein Arzneimittelbudget schonen wolle. Er würde im Zweifel das neue Medikament auch privat bezahlen wollen.

Im ersten Moment war ich versucht, Herrn Hartmanns Reaktion lediglich als Gegenwehr auf meine Empfehlung einer Insulintherapie zu werten. Gab es auch eine verborgene Logik hinter seinem Vorwurf?

Weder die Situation mit meinem Patienten noch der Vorfall mit dem Pharmareferenten sind Einzelfälle. Ich begann zu überlegen, worin der Antrieb hinter ihren Handlungen liegen könnte.

Die Pharmaindustrie steht für Umsätze im mehrstelligen Milliarden-Euro-Bereich. Für deren Erhalt kämpfen die Firmen -auch mit harten Bandagen. Dabei kommen Werbung, Beeinflussung und Bestechung von Ärzten sowie Datenfälschung von wissenschaftlichen Ergebnissen zum Einsatz.
Ein großer Teil der pharmazeutischen Hersteller sind börsennotierte Aktiengesellschaften. Sie unterliegen damit den speziellen Regeln dieser Gesellschaftsform. Der Wert einer solchen Firma bemisst sich am Wert der gehandelten Aktien.

Die Leitung einer solchen Aktiengesellschaft ist also den Aktionären verpflichtet. Sie wird danach beurteilt, ob der Wert der Firma unter ihrer Leitung steigt oder nicht.
Den Erwartungsdruck der Aktionäre gibt die Firmenleitung an ihre Angestellten weiter. Dies wirkt sich überall aus. Besonders deutlich wird mir dies an den Mitarbeitern im Außendienst.

Normalerweise ist der Druck, den die Pharmavertreter beim Verkaufen erzeugen, viel subtiler als der allzu deutliche Druck in dem oben genannten Gespräch. Mir wird häufig erzählt, dass meine Kollegen das Medikament schon einsetzen und alle sehr zufrieden damit seien.
In mir entsteht das Gefühl, ich könnte nicht mehr so recht dazu gehören, wenn ich das neue Präparat nicht auch einsetze. Ich könnte vielleicht sogar „zum alten Eisen“ gehöre. Man legt mir nahe, ich hätte den Anschluss an „moderne“ Entwicklungen verloren.
Das ist ein sehr unangenehmes Gefühl, aus dem es nur einen Ausweg zu geben scheint, nämlich die neuen Medikamente auch umfassend einzusetzen.

Mir hatte sich schon vor einigen Jahren ein anderer Ausweg eröffnet. Ich hatte angefangen, mich mit befreundeten Kollegen über die Einflüsse unserer Pharmareferenten auszutauschen. Und – meine Erlebnisse waren alles andere als einzigartig. Nahezu alle meine Kollegen hatten die selben Geschichten zu hören bekommen.

Aus diesem Blick ist die Handlungslogik der Pharmafirmen nun klarer. Die Firmen werden nicht müde, den Ärzten zu erklären, dass sie ja nur den Patienten helfen wollen. Hinter diesen vordergründig altruistischen Motiven noch den legitimen Verkaufswunsch wahrzunehmen, fällt dann sehr schwer.

Aber was ist mit dem Wunsch von Herrn Hartmann, unbedingt das neue Medikament ausprobieren zu wollen? War er einfach nur durch gut gemachte Werbung beeinflusst worden?
Ich denke, das wäre zu kurz gegriffen. Mein Eindruck war nämlich, dass es Herrn Hartmann um mehr ging, als nur das Insulin zu vermeiden. Er setzte extreme Hoffnungen in die Wirkung des neuen Medikaments. Mir kam es vor, als wenn er sich ein Mittel vorstellte, das nicht nur die Blutzuckerwerte verbesserte, sondern vielleicht sogar den Diabetes ganz heilen könnte.
Dass er wenig begeistert war, als ich ihm diesen vermeintlichen Ausweg ausreden wollte, war mir jetzt klar.

Bei neuen Medikamenten scheint es eine interessante Allianz zwischen der Handlungslogik von Pharmafirmen und Patienten zu geben. Der Verkaufswunsch der Pharmaindustrie trifft auf den Heilungswunsch der Patienten. Zwischen diesen Extremen als Arzt tätig zu sein, ist immer wieder eine spannende Herausforderung.

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  1. Lieber Andreas,

    ich hatte heute Abend beim Weihnachtsumtrunk meines Chores nach dem Vespergottesdienst über unbequeme Heilige – welch Zusammentreffen – ein Gespräch, dass in ganz ähnlichen Bahnen verlief, wie Dein Text. Ich mache immer wieder die Erfahrung, daß es den Zuhörern hilft, wenn ich betone, daß das Wohl meiner Patienten im Mittelpunkt meiner Überlegeungungen, Empfehlungen und Handlungen stehen muss. Ich bin nicht dazu da die Aktionäre der Pharmafirmen reich zu machen, ich bin aber auch nicht dazu da die Krankenkasse meiner Patienten vor der Insolvenz zu bewahren. Mein Handeln ist ausschließlich dem Wohl meiner Patienten verpflichtet. Ganz im Sinne Deines Textes! Die Mitmenscheen sind immer wieder schockiert über Berichte aus dem Leben mit der pharmazeutischen Industrie, das du sehr schön unaufgeregt dargestellt hast.

    Lieber Gruß
    Harm

    Harm Hammer vor 10 Jahren