Ein Fotograf beim Arzt

Wenn ich einen Patienten zum ersten Mal treffe, ist das immer ein spannender Moment.
In meinem Computer sehe ich nur den Namen, das Alter und das Geschlecht. Aber schon mit diesen wenigen Informationen entsteht in mir ein erstes inneres Bild. Dieses Bild wird dann konkret, wenn ich die Tür zum Wartezimmer öffne und meinen neuen Patienten aufrufe. Dann steht er vor mir.

Der Handschlag zur Begrüßung und der Weg zu meinem Sprechzimmer erweitern meinen ersten Eindruck. Ein kräftiger Händedruck gefolgt von einem forschen Gang über den Flur leiten das Gespräch anders ein, als ein weicher, vielleicht sogar schüchterner Händedruck und ein langsames, mühevolles Gehen.

Auch wenn ich häufig einen konkreten Auftrag des überweisenden Kollegen vorliegen habe, so lautet meine erste Frage fast immer: „Was führt Sie zu mir?“.
Die Antwort ist immer sehr spannend.

Mir fällt dabei Herr Streck ein. Meine übliche Eingangsfrage ging an einen großen, kräftigen Mann von Mitte fünfzig, der mir mit verschränkten Armen gegenüber saß. Seine Sätze waren kurz und knapp. Meist bestanden sie nur aus einem Satz.
So erfuhr ich zwar einige Fakten wie die Namen der Medikamente, die er einnahm, und seinen letzten HbA1c-Wert. Ein eigentliches Gespräch entstand aber nicht. Zwischen uns gab es eine Barriere. Eine spürbare Barriere. Zudem war sie in den weiterhin verschränkten Armen meines Patienten auch deutlich sichtbar.

Das Widerständige bei Herrn Streck war fast mit Händen zu greifen und dennoch unausgesprochen. Seine verschränkten Arme, seine sehr kurzen Antworten schienen zu sagen: „Ich bin nicht freiwillig hier“.
War es überhaupt möglich, einen näheren Kontakt zwischen uns herzustellen? Sollte ich abwarten und erstmal einen weiteren Termin vereinbaren? Aber was sollte sich bis zu einem erneuten Treffen geändert haben?
Durch mein Nachdenken entstand ein Moment der Stille. Mehr intuitiv als geplant fragte ich Herrn Streck nach seinem Beruf. Zu meiner großen Überraschung wandelte sich das Verhalten meines Gegenübers unmittelbar. Er erzählte mir strahlend, dass er Fotograf sei und seit vielen Jahren für eine große Tageszeitung arbeite. Aus dem bisher starr dasitzenden Mann mit verschränkten Armen wurde ein lebhafter Erzähler.

Was war geschehen? Mein Eindruck war sofort, dass es um mehr ging, als mit einer persönlichen Frage „das Eis gebrochen“ zu haben.

Jeder Mensch, der zum Arzt geht, wird damit zum Patienten. Und zwar völlig ohne sein Zutun. Mit dem Betreten der Praxis und der Anmeldung am Empfang ist es schon geschehen. Man kann es wohl nicht verhindern.
Hinter dem Patient-Sein ist dann die eigentliche Person nur noch blass erkennbar. Überspitzt kann man dies im Sprachgebrauch erkennen, der früher in Krankenhäusern verwendeten wurde. Bei der Rede über „Die Galle aus Zimmer 6“ gibt es gar keine Person mehr, sondern nur noch ein Patienten-Objekt.

Die Patientenrolle ist stets mit einer gelinden Regression verbunden. Mir fallen dazu drei Ursachen ein.

Da ist zunächst die Notwendigkeit, Befehle zu befolgen. Harmlos sind solche wie „Bitte nehmen Sie im Wartezimmer Platz“. Die Aufforderung, sich für eine Untersuchung zu entkleiden, ist da schon folgenschwerer.

Des Weiteren ist man in der Patientenrolle immer etwas unterlegen. Man wendet sich als Laie mit einem Problem an einen Fachmann. Diese Differenzspannung ist nicht aufhebbar.
Und das ist auch gar nicht sinnvoll. Denn für das ärztliche Handeln ist sie in vielen Fällen notwendig. Mir fallen dazu Patienten ein, die mir von rätselhaften Symptomen berichten. In den meisten Fällen sind diese Beschwerden völlig harmloser Natur ,und ich kann meine Patienten beruhigen. Und dafür ist es notwendig, dass ich es besser weiß als sie.

Der dritte Grund für eine Regression in der Patientenrolle liegt in dem Verlust der Autonomie über den eigenen Körper. Jede medizinische Handlung, die man als Patient hinnehmen muss, geht mit einem Autonomieverlust einher. Von harmlosen Dingen wie dem Messen des Blutdrucks, über Spritzen und Blutentnahmen bis hin zu Operationen in Vollnarkose reicht hier das Spektrum.

Man kommt in der Patientenrolle um eine gewisse Portion Regression und Fremdbestimmheit einfach nicht herum.

Auf der anderen Seite ist zu viel Regression hinderlich. Denn der Patient muss über seine Behandlung mit entscheiden. Dabei ist eine Unterwerfung unter die Meinung des Arztes sehr schädlich. Denn der Patient nimmt die Medikamente ein – und nicht der Arzt.

Einem großen Teil meiner neuen Patienten geht es wohl wie Herrn Streck. Sie werden vom Hausarzt überwiesen, wenn die Behandlung ihres Diabetes mit Tabletten nicht mehr ausreicht und eine Insulinbehandlung ansteht. Und verständlicherweise ist diese Behandlung nicht gerade beliebt. Sich Insulin zu spritzen ist eine kleine Selbstverletzung. Es tut etwas weh. Meine Patienten sagen dann: „Jetzt muss ich mich vielleicht auch noch spritzen“.

Ich kann den Widerwillen, den meine Patienten dem Beginn einer Insulinbehandlung entgegensetzen, gut nachvollziehen. Und natürlich richtet sich der Widerwille auch gegen mich als den Überbringer der zwar erwarteten, aber schlechten Nachricht.

Das Gespräch bei unserem nächsten Termin eröffnete Herr Streck. Er hatte mir ein paar Beispiele seiner Fotoarbeiten mitgebracht. Da ich selbst Hobby-Fotograf bin, war ich interessiert und von seinen Bildern sehr beeindruckt. Auf diesem Gebiet war er der Experte und ich der Laie.
Die beim ersten Termin von mir dringend angeratene Insulintherapie hatte er in der Zwischenzeit begonnen.

Im Kontakt mit Patienten, die ich noch nicht lange kenne, stoße ich immer wieder auf geheimnisvolle Widrigkeiten. Gelegentlich gelingt es, ihnen so leicht zu begegnen wie bei Herrn Streck.

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  1. Sehr interessanter Artikel, so wie im Berufsleben überhaupt, sich für die Hobbys und oder den Beruf seines gegenüber interessieren und das Gespräch (ob Arzt- oder Verkaufsgespräch) geht sehr viel einfacher.

    Gerd Schäfer vor 8 Jahren