Die Geschichte eines souveränen Mannes

Es gibt Patienten, die einen ganz besonderen Eindruck auf mich ausüben. So war es gleich beim ersten Kontakt mit Herrn Cornelius. Als er vor mehr als 9 Jahren mein Patient wurde, betrat ein 69-jähriger Mann mein Sprechzimmer, der trotz seiner geringen Körpergröße auf mich stattlich und gewichtig wirkte. Im Rückblick fällt mir auf, dass es keine Fremdheit zwischen uns zu überwinden galt, wenngleich wir uns noch nie zuvor begegnet waren. Schon im Laufe unseres ersten Gesprächs bekam ich eine Ahnung davon, woran das lag.

Der formale Grund seines Termins bei mir war sein Typ 2-Diabetes. Vor wenigen Wochen von seiner Hausärztin diagnostiziert, sollte ich nun die Behandlung übernehmen. Das gelang problemlos, denn bei Herrn Cornelius bestand auch ohne Medikamente eine sehr gute Stoffwechsellage.

Schon der Versuch, einen Kontroll-Termin zu vereinbaren, offenbarte den Beruf meines neuen Patienten. Er ist Theater-Schauspieler und Regisseur und in den kommenden Wochen auf Tournee. Unser nächster Termin verschob sich etwas nach hinten.

Seine Fähigkeit zum gewinnenden und guten Auftreten erlebt man bei Herrn Cornelius rasch. Nicht die Spur von Fremdheit. Ich vermute, dass es für jemanden, der es gewohnt ist, Theaterbesucher auch noch in der letzten Reihe für sich einzunehmen, eine Leichtigkeit sein müsste, die raumfordernde Distanz meines Schreibtisches zu überwinden.

Herr Cornelius tritt bei mir regelmäßig im dunklen dreiteiligen Anzug auf, in dem er seinen weißen Vollbart besonders zur Geltung bringt. Mit der richtigen Auswahl der Kleidung ist er vertraut, sie passt stets zu seiner Person und zu seinem Auftreten. Auch mit meinen Arzthelferinnen stellt er den Kontakt mit großer Leichtigkeit her, und ich höre immer gleich, wenn er die Praxis betritt. Heitere, teils flirtende Dialoge kann ich dann aus der Ferne erlauschen.

Und Herr Cornelius hat darüber hinaus eine Fähigkeit, die mit seinem Auftreten nur am Rande zu tun hat. Dies wurde für mich zum ersten Mal deutlich, als er eine schwerwiegende Erkrankung zu überwinden hatte.
Im Verlauf von zwei Jahren waren die Leberwerte meines Patienten deutlich angestiegen. Zunächst hatten wir beide seinen Tournee-Brandy in Verdacht, den er einfach brauchte, um nach den Vorstellungen zur Ruhe zu kommen. Doch der vollständige Verzicht auf Alkohol erbrachte keine Veränderung.

Auf der Suche nach einer anderen Ursache folgte eine Kernspintomografie, die hinsichtlich der Leber einen gänzlich unauffälligen Befund ergab. Aber wir entdeckten als Zufallsbefund einen Tumor an der rechten Niere.

Ich wies Herrn Cornelius ins Krankenhaus ein. Die Diagnose der Kollegen dort war eindeutig. Mein Patient hatte einen Krebs an der rechten Niere. Die Untersuchungen ergaben keinen Anhalt dafür, dass der Krebs schon gestreut hatte. Die operative Entfernung der befallenen Niere würde mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Heilung führen.

Und so unterzog sich Herr Cornelius dieser Operation und benötigte danach nur kurze Zeit, um sich vollständig zu erholen.

Kurz vor unserem nächsten Termin erhielt ich eine E-Mail von ihm. Er bat mich um einen Anruf. Nachdem ich seine Telefonnummer in Hamburg gewählt hatte, hörte ich auf dem Anrufbeantworter, er befände sich für einen Studienaufenthalt in den USA. Er bittet um eine Nachricht und würde sich nach seiner Rückkehr melden.
Ich war verdutzt. Eine Studienreise? Amerika? Davon hatte in der E-Mail meines Patienten nichts gestanden. Wenige Minuten später bekam ich seinen Rückruf. Ich fragte ihn nach dem Text auf dem Anrufbeantworter und wurde sofort aufgeklärt. Wie die meisten Schauspieler ist Herr Cornelius freiberuflich tätig. Er ist darauf angewiesen, engagiert zu werden. Eine schwere Erkrankung kann nun schnell dazu führen, dass Theaterhäuser und Regisseure sich mit Engagements zurückhalten. Und so hatte Herr Cornelius seinen Krankenhausaufenthalt mit einer Studienreise kaschiert.

Als ich ihn bei unserem nächsten Termin wiedersah, hatte seine Vitalität unter der Operation nicht im mindesten gelitten. Er war kraftvoll und tatendurstig wie zuvor.

Was mich immer wieder bei diesem Patienten beeindruckt, ist seine Souveränität.
Speziell, als sich einige Jahre später sein Äußeres zu verändern begann.

Typischerweise sehe ich meine Patienten zu den Diabetes-Kontrolluntersuchungen alle drei Monate. Bei einem dieser Termine nahm ich wahr, dass Herr Cornelius an Gewicht abgenommen hatte. Nicht extrem, aber doch so, dass ich es bemerken konnte. Nun war mein Patient weder normalgewichtig noch schlank geworden, aber ich fragte ihn doch, ob mich mein Eindruck trügen würde. Er erzählte mir, dass er etwa zehn Kilogramm an Gewicht abgenommen habe. Er hatte auch eine gute Erklärung dafür. Bei ihm war eine umfangreiche Zahnbehandlung notwendig geworden, und hierfür hatte er in den letzten Monaten keine Zeit gehabt. Er war so eng in Theaterprojekte eingebunden, dass er es sich einfach nicht erlauben konnte, durch die Folgen einer Zahnbehandlung nicht richtig sprechen zu können.
Seine Nahrungsaufnahme war durch seine Zahnprobleme arg eingeschränkt. Ihm war diese Einschränkung derzeit aber lieber, als nicht im Theater spielen zu können. In seinem beruflichen Terminkalender gab es in näherer Zukunft Zeit, um die Zahnbehandlung durchführen zu lassen.

Das Thema Gewicht ist beim Diabetologen stets heikel. Ich spreche es zumeist nicht an, und schon gar nicht im Erstkontakt. Das tun dafür aber häufig meine Patienten. Sie schämen sich ihres Übergewichts und meinen, ich würde gerne von ihnen hören, dass sie abnehmen wollen. Wenn einer meiner Patienten relevant an Gewicht abgenommen hat, ist es aber unbedingt notwendig, dass ich es bemerke und es mir anmerken lasse, dass ich es bemerkt habe. Sonst ist die Enttäuschung groß.

Eine Gewichtsabnahme wird meist positiv gesehen. Gefürchtet bei Laien und Ärzten ist aber ein ungewollter Gewichtsverlust. Wenn ein Mensch bei sonst gleichen Bedingungen von Ernährung und körperlicher Aktivität Gewicht abnimmt, kommt einem schnell der Gedanke an eine Erkrankung als Ursache. Eine Schilddrüsenüberfunktion wäre dabei eine harmlose und gut behandelbare Ursache. Die Tuberkulose, die früher Schwindsucht hieß, und Krebserkrankungen sind da schon von anderem Kaliber. Eine solche Erkrankung zu übersehen, ist fast eine Grundform ärztlicher Angst.

Daher war ich erleichtert, dass es bei Herrn Cornelius eine klare Ursache seiner Gewichtsabnahme zu geben schien.

Bei den nächsten Kontrollen setzte sich der Gewichtsverlust aber fort. Am Ende waren es fast dreißig Kilogramm, die mein Patient abgenommen hatte. Jetzt war er noch allenfalls leicht übergewichtig und hielt sein Gewicht.

Zu den Zahnproblemen, die doch erst viel später behoben werden konnten als geplant, kam ein sehr persönlicher Schicksalsschlag hinzu. Herr Cornelius musste es verkraften, dass sich seine Frau von ihm getrennt hatte. Dies hatte sich verheerend auf seinen Appetit ausgewirkt.

Nun gab es also schon zwei Gründe für einen Gewichtsverlust. Aber reichte das aus, um dreißig Kilogramm weniger Gewicht zu erklären? Ich war mir unsicher.

Diese Unsicherheit schilderte ich meinem Patienten beim nächsten Gespräch. Ich erklärte ihm, dass nach den Regeln der ärztlichen Kunst jetzt umfassende Untersuchungen anstehen würden. In der Fachsprache wäre das dann eine „Abklärungsdiagnostik bei unklarem Gewichtsverlust“. Herr Cornelius wollte wissen, was das denn konkret bedeuten würde. Ich begann zu überlegen. Da sämtliche Blutuntersuchungen unauffällig waren und mein Patient vollständig beschwerdefrei, ergab sich hieraus kein Punkt, mit dem man beginnen müsste. Also wäre es aus meiner Sicht am sinnvollsten, Tests auf die häufigsten Erkrankungen zuerst durchzuführen. Dies wären eine Dickdarm- und Magenspiegelung sowie eine Untersuchung beim Urologen.
Herr Cornelius begann zu überlegen. Ihm ging es gut und er hatte keine Beschwerden. Es gab zwei klare Gründe, die seinen Gewichtsverlust erklären konnten, und aktuell war sein Gewicht konstant. Die Gefahr, dass er an einer schweren gefährlichen Erkrankung litt, war aus seiner Sicht ausgesprochen gering. Er wollte daher lieber seine Zeit im Theater anstelle bei Ärzten verbringen.

Ich konnte diese Entscheidung meines Patienten gut nachvollziehen und stimmte ihm zu. Ich stellte ihm aber noch eine abschließende Frage. Wie er sich denn fühlen würde, wenn wir in der Zukunft doch auf eine schwerwiegende, vielleicht sogar bösartige Krankheit als Ursache seines Gewichtsverlusts stoßen würden. Würde er es bereuen, nicht früher danach gesucht zu haben?
Herr Cornelius hatte auf diese Frage eine sichere Antwort. Es war ein klares Nein.

Die Souveränität, die ich in diesem Fall erlebt habe, beeindruckt mich sehr. Denn sie steht in deutlichem Kontrast zum Common Sense. Jener Common Sense diktiert, jedwede Möglichkeit zu einer medizinischen Untersuchung zu nutzen. Und Ärzte, die viele Untersuchungen veranlassen, gelten in großen Kreisen der Bevölkerung als gute Ärzte.

Die autonome Willensbildung über den eigenen Körper ist ein hohes Gut. Ärzte und Patienten bewegen sich aber im Rahmen des Common Sense-Diktats, das diese Freiheit druckvoll begrenzt. Und das in dreifacher Form.

Da ist zunächst der Meinungsdruck. Er begegnet einem überall. Im privaten Gespräch, in den Medien und nicht zuletzt beim Arzt. Der Meinung, sich untersuchen lassen zu müssen, kann man kaum entfliehen. Widersetzt man sich, hat man das Gefühl, ausgeschlossen und alleine zu sein.

An zweiter Stelle steht der Eiligkeitsdruck. In diesem Kontext besteht keine Zeit zum Überlegen. Alles muss schnell geschehen, weil vermeintlich großes Unglück droht.

Und zuletzt besteht Handlungsdruck. In diesem Druck fühlt es sich besser an, etwas zu tun als abzuwarten. Das unangenehme Gefühl, nichts zu tun, ist so stark, dass wir auch dann handeln, wenn die Handlung unsinnig ist.

Für mich als Arzt ist es üblich, dass Patienten diesen Common Sense mit in mein Sprechzimmer tragen. Dieser Druck ist so häufig vorhanden, dass ich ihn zumeist gar nicht spüre.

Wenn ich aber auf einen Patienten wie Herrn Cornelius treffe, der in seiner Souveränität frei von diesem Diktat ist, dann entsteht auch bei mir eine Freiheit, die angenehm und entspannend ist.

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  1. Diese Kasuistik gefällt mir bislang am Besten. Solch klare Gedanken als Patient fassen zu können ist traumhaft und vielen Menschen (und den sie behandelnden Ärzten) zu wünschen!

    Konstantin vor 10 Jahren