Die Erlebnisse eines Patienten mit Vorhofflimmern
Vor kurzem erzählte mir Herr Claussen von einem merkwürdigen Erlebnis mit seinem Hausarzt. Es ging um die Frage, ob Herr Claussen auf Dauer das Medikament Marcumar® (Phenprocoumon) einnehmen soll. Es setzt die Blutgerinnung stark herab, sodass das Blut nur sehr langsam gerinnt. Häufig wird dieser Effekt auch als „Blutverdünnung“ bezeichnet.
Der Wirkstoff Phenprocoumon gehört in die Gruppe der Coumarine, die seit gut 60 Jahren in der Medizin eingesetzt werden. Einer der ersten Menschen, der jemals damit behandelt wurde, war 1953 der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower.
Die Behandlung von Menschen mit diesem Medikament ist heute so alltäglich, dass man sich kaum noch daran erinnert, dass der Wirkstoff in der Tierhaltung entdeckt wurde.
Anfang der 1930er Jahren traten in Kanada und den USA bei Rindern mysteriöse Todesfälle auf. Immer wieder verbluteten Tiere auf den Weiden, ohne dass sich schwere Verletzungen nachweisen ließen. Farmer und Tierärzte waren erschrocken und standen vor einem Rätsel.
Erst im Jahr 1936 gelang es, dieses Rätsel zu lösen. Forscher fanden in verdorbenem Süßklee eine Substanz, die die Blutgerinnung stark herabsetzt. Wenn Tiere diesen Süßklee zu fressen bekommen, können die gefährlichen Blutungen ausgelöst werden. Die Gruppe der Coumarine war entdeckt.
Da es beim Menschen mehrere Krankheiten oder Zustände gibt, bei denen die Blutgerinnung zu stark zu sein scheint, lag es nahe, diese Substanz in der ärztlichen Behandlung einzusetzen.
Hauptsächlich geschieht dies heute in drei Situationen:
– nach einer Beinvenen-Thrombose
– nach dem Einsetzen einer künstlichen Herzklappe
– und bei Menschen mit der Herzrhythmusstörung Vorhofflimmern.
In allen drei Fällen bilden sich Gerinnsel in der Blutbahn, und der Einsatz von Gerinnungshemmern wie Marcumar ist daher heute Standard in der Therapie. Die Behandlung kann zum Teil die Bildung der Gerinnsel und damit die lebensbedrohlichen Komplikationen verhindern.
Herr Claussen gehört in die Gruppe der Menschen mit Vorhofflimmern. Vor gut 5 Jahre trat es erstmalig auf, und es ging ihm dabei sehr schlecht. Plötzlich raste sein Puls mit 180 Schlägen pro Minute und der Blutdruck war sehr niedrig. Sein Hausarzt erkannte die Gefahr sofort und schickte ihn mit dem Krankenwagen in das nächste Krankenhaus.
Dort gelang es mit Medikamenten, den Puls zu normalisieren und das Herz wieder in einen regelmäßigen Rhythmus zu bringen. Leider trat unter der Behandlung jetzt das Gegenteil des zu schnellen Herzschlags auf. Das Herz schlug teilweise viel zu langsam. Herr Claussen hatte starken Schwindel und konnte sich kaum auf den Beinen halten.
Alle Versuche, mit einer niedrigeren Dosis der bremsenden Medikamente auszukommen, schlugen fehl. Sofort kam es wieder zu Anfällen mit Herzrasen.
Die Ärzte im Krankenhaus mussten daher eine andere Lösung finden. Sie setzten Herrn Claussen einen Herzschrittmacher ein. Der schützt ihn seither vor einer zu niedrigen Herzfrequenz. Wenn das Herz seltener als 60 mal in der Minute schlägt, springt der Herzschrittmacher unmerklich ein.
Mit diesem Schutz konnten nun die Medikamente gegen das Vorhofflimmern und den damit verbundenen zu schnellen Herzschlag höher dosiert werden. Herrn Claussen ging es damit sehr gut, und er hatte seither keinerlei Herzbeschwerden mehr verspürt.
Die modernen Herzschrittmacher haben noch eine weitere Fähigkeit: Sie überwachen die elektrische Funktion des Herzens und führen ein Protokoll, wenn Unregelmäßigkeiten auftreten. Dieses Protokoll kann der Kardiologe mittels eines Sensors, der auf die Haut im Bereich des Schrittmachers gelegt wird, in seinen Computer einlesen.
Auch Herrn Claussens Kardiologe hatte diese Untersuchung durchgeführt und dabei festgestellt, dass gelegentlich über einige Minuten Vorhofflimmern hat. Herr Claussen hatte davon gar nichts bemerkt. In einer solchen Phase von Vorhofflimmern kann sich ein Blutgerinnsel im linken Herzteil bilden. Wenn ein derartiges Gerinnsel mit dem Blutstrom aus dem Herzen herausgespült wird, kann es im Gehirn landen und dort einen Schlaganfall verursachen.
Daher ist es in Fällen von Vorhofflimmern Standard, lebenslang eine Behandlung mit Marcumar durchzuführen. So stand es dann auch als Empfehlung im Bericht des Kardiologen an den Hausarzt.
Als Herr Claussen einen Tag später mit diesem Bericht bei seinem Hausarzt sitzt, geht plötzlich alles sehr schnell. Er solle doch möglichst sofort mit der Behandlung mit Marcumar beginnen, schlägt sein Hausarzt vor. Sonst drohe ihm ein Schlaganfall.
Die Eindringlichkeit der Worte seines vertrauten Hausarztes und die Eile mit dem Beginn der Behandlung erschreckten ihn. Er hatte plötzlich das Gefühl, sich in großer Gefahr zu befinden. Dabei waren es doch nur wenige kurze Phasen gewesen, in denen sein Herz unregelmäßig schlug.
Der Schrecken bewirkte aber, dass er sich erstmal mit allem einverstanden erklärte. Am nächsten Tag sollte noch eine Blutuntersuchung erfolgen, und abends sollte er die erste Dosis von Marcumar einnehmen.
Zuhause angekommen fühlte er sich angespannt. Irgendwie hatte er bei der ganzen Sache ein ungutes Gefühl. Alles war so schnell gegangen. Je länger er wieder zuhause war, desto mehr kam er zur Ruhe. Und mit der Ruhe wurde ihm klar, dass er mehr Informationen benötigte. Die Entscheidung für die Behandlung mit Marcumar hatte nicht er selbst, sondern irgendwie sein Hausarzt für ihn getroffen.
Er setzte sich an seinen Computer und recherchierte im Internet. Nach meiner Erfahrung kann die Suche nach medizinischen Informationen im Internet schnell in die Irre führen, aber Herr Claussen hatte ein gutes Gespür. Er fand eine seriöse Quelle mit Informationen über das Risiko für Schlaganfall bei Menschen mit Vorhofflimmern.
Zunächst lernte er, dass es keine Rolle spielt, ob das Vorhofflimmern dauerhaft besteht oder nur phasenweise. Das Risiko für einen Schlaganfall ist in beiden Fällen annähernd gleich.
Wie hoch das Risiko für einen Schlaganfall mit und ohne Behandlung ist, kann mit dem CHADS2-Score ausgerechnet werden. Und genau diesen Rechner fand Herr Claussen auf einer Internetseite.
Für ihn waren drei Zahlen interessant:
– ca. 5 % pro Jahr ist sein Risiko für einen Schlaganfall ohne Behandlung
– ca. 2 % pro Jahr ist sein Risiko für einen Schlaganfall bei Einnahme von Marcumar
– ca. 3 % pro Jahr ist sein Risiko für einen Schlaganfall bei der Einnahme von ASS
Nach dem Gespräch mit seinem Hausarzt war Herr Claussen von einem weitaus höheren Risiko ausgegangen. Er war jetzt ruhiger und wusste, dass er sich mit seiner Entscheidung Zeit lassen konnte, zumal er ASS schon seit vielen Jahren täglich einnahm.
Im Verlauf des Tages fiel ihm auch ein, woher sein plötzliches Unbehagen gekommen war, als die Therapiemöglichkeit mit Marcumar angesprochen worden war: Ein Freund der Familie nimmt schon längere Zeit Marcumar ein und hatte vor einigen Monaten einen kleinen Autounfall erlitten. Auf den ersten Blick war nur ein Blechschaden entstanden. Aber ein paar Stunden nach dem Unfall hatte der Freund Lähmungserscheinungen bemerkt, und im Krankenhaus war eine Blutung im Kopf festgestellt worden. Diese wäre ohne Marcumar wohl nicht aufgetreten. Es war eine Operation im Kopf notwendig geworden, um das Blut zu entfernen. Der Freund hatte sich zum Glück vollständig erholt.
In die Betrachtung der Behandlung mit Marcumar musste also neben dem Nutzen auch ein mögliches Risiko mit in Betracht gezogen werden. Für Herrn Claussen war dieses Risiko fast greifbar. Die Krankheit des Freundes war ihm sehr präsent.
Mit diesen Informationen saß Herr Claussen am nächsten Morgen bei seinem Hausarzt. Er erklärte ihm, dass er jetzt nicht mit der Marcumar-Behandlung beginnen möchte.
Sehr sachlich und etwas kühl klärte der Hausarzt ihn darüber auf, dass dies auf sein eigenes Risiko geschehe. Er ließ sich einen Zettel unterschreiben, auf dem er den eigenen Willen von Herrn Claussen dokumentierte.
Nachdem der Zettel unterschrieben war lockerte, sich etwas bei seinem Arzt. Er unterstützte nun Herrn Claussens Entscheidung, kein Marcumar einzunehmen, und erzählte von sich selbst. Er leidet auch an anfallsweisem Vorhofflimmern und hatte sich ebenfalls gegen eine Behandlung mit Marcumar entschieden.
Herr Claussen spürte wieder die bekannte Vertrautheit zwischen ihnen beiden und erzählte von den Ergebnissen seiner Recherche. Sein Arzt bestätigte ihm die Zahlen und erzählte ihm, dass er aus den selben Gründen die gleiche Entscheidung getroffen habe.
In seiner Rolle als Arzt würde er sich aber verpflichtet fühlen, ihm den etablierten Standard der Behandlung zu empfehlen. Da könne er einfach nicht anders.
Mich hat dieses Erlebnis irritiert. Ganz offensichtlich gibt es in der Medizin vorherrschende Lehrmeinungen, die sehr kräftig sind.
Diese paradigmatischen Lehrsätze entfalten eine fast magnetische Anziehung, der man sich als Arzt nicht entziehen kann und sich kaum traut, dagegen zu handeln.
Dies war dem Hausarzt von Herrn Claussen passiert. Die Lehrmeinung „bei Vorhofflimmern gibt man Marcumar“ schien so zwingend, dass er seinem Patienten sprachlich und nicht sprachlich vermittelte, dass diese Therapie alternativlos sei.
Als der Patient sich ebenso nachdrücklich gegen dieses Urteil stellte, konnte er zu seinem Arzt vordringen.
1 Kommentar
Die Geschuchte kommt mir doch bekannt vor! Hast Du sehr gut geschrieben!
Lieber Gruß
Harm