Die Geschichte einer Patientin mit Polyneuropathie

Es war einer dieser typischen Montage, an denen sich die ungeplanten Ereignisse aneinander reihen. Ich war schon mehrfach in meiner Sprechstunde gestört worden, und jetzt schrieb mir auch noch meine Wundassistentin aus dem Untersuchungsraum, dass sie meine Hilfe bei einer Patientin benötigt. „Das Bein von Frau Lange sieht gar nicht gut aus“ las ich auf meinem Monitor. Also verabschiedete ich mich von dem gerade bei mir sitzenden Patienten und ging in den hinteren Teil unserer Praxis.

Frau Lange saß in unserem Fußbehandlungsraum auf dem Behandlungsstuhl. Schon beim Betreten des Raumes war das akute Problem nicht zu übersehen gewesen. Ihr linkes Bein war feuerrot verfärbt und massiv geschwollen. Ich war erschrocken.

Frau Lange ist eine freundliche, 76 jährige Frau, die ich schon seit mehreren Jahren als Patientin kenne. Ihr Diabetes ist mit Tabletten gut eingestellt, als Folge der Erkrankung war dennoch eine Nervenfunktionsstörung, also eine Polyneuropathie entstanden. Frau Lange hatte davon kaum etwas selbst bemerkt. Auf meine Frage hin beschrieb sie ein leichtes Taubheitsgefühl in beiden Füßen, etwas wattig beim Gehen. Dies hatte für sie aber keine große Einschränkung dargestellt. Das Thema war eher beiläufig in unseren Terminen zur Sprache gekommen.

Eine Polyneuropathie ist bei Menschen mit einem langjährigen Diabetes mellitus eine häufige Komplikation. Bei einer Diabetesdauer von mehr als 25 Jahren sind bis zu 50 Prozent der Patienten davon betroffen. Dabei müssen nicht immer Beschwerden bestehen. Ein großer Teil der Patienten ist sogar völlig beschwerdefrei und die Polyneuropathie wird bei der jährlichen Routine-Untersuchung festgestellt. Der typische Test hierfür besteht aus der Untersuchung mit einer Stimmgabel, die unterschiedlich starke Schwingungen erzeugen kann

Bei der Untersuchung wird die angeschlagene Stimmgabel am Fuß aufgesetzt. Die Schwingung überträgt sich auf den Fuß und kann dort gespürt werden.

Gesunde Menschen spüren bei diesem Test auch noch sehr feine Schwingungen. Menschen mit einer Polyneuropathie nehmen selbst starke Schwingungen nicht mehr wahr. Der Test ist einfach durchzuführen und dauert nur wenige Minuten. Er ist sehr verlässlich.

Bei Menschen mit einer Polyneuropathie verschwindet ganz langsam das Empfinden für Berührung, Druck und Schmerz an den Füßen. Dies langsame Ersterben der Wahrnehmung wird von den meisten Menschen selbst gar nicht gespürt. Der Dortmunder Diabetologe und Philosoph Alexander Risse spricht vom Leibesinselschwund.

Man kann sich den Körper als die Wahrnehmung von vielen Leibesinseln wie Kopf, Bauch, Hand und Fuß vorstellen. Bei einem Menschen mit einer Polyneuropathie verschwinden ganz langsam die Leibesinseln der Füße. Sind die Leibesinseln ganz verschwunden, kann der Patient sich seine Füße zwar ansehen, er empfindet sie aber als nicht wirklich zu seinem Körper gehörend.

Anstellen des Bildes vom Schwund der Leibesinseln wurde früher vielfach der Begriff Neclect verwendet. Ein solcher Begriff beinhaltet auch den Aspekt von Vernachlässigung und nicht-wahrnehmen-wollen. Das Verhalten von Menschen mit einer Polyneuropathie ist aber keine gewollte Vernachlässigung, sondern die Füße werden aufgrund der Empfindungsstörung als nicht mehr zum Körper gehörend wahrgenommen, so als wären sie gar nicht da. Und um etwas, das gar nicht da ist, kümmert man sich auch nicht.

Für Gesunde ist so etwas nicht nachfühlbar.

Bei Frau Lange hatte ich im Verlauf der Jahre ein immer weiter abnehmendes Vibrationsempfinden an den Füßen gemessen und eine Polyneuropathie diagnostiziert. Frau Lange selbst hatte den Verlust ihrer Empfindung gar nicht bemerkt.

Nach meiner Erfahrung geht das vielen Patienten so. Ihr Spüren ist doppelt beeinträchtigt:
Es erstirbt langsam die Wahrnehmung für die Reize an den Füßen.
Und sie können dieses Absterben der Empfindung nicht wahrnehmen.

Neben dieser großen Gruppe gibt es noch eine zweite kleinere Gruppe. Diese Menschen empfinden das Absterben ihrer Wahrnehmungen an den Füßen als beunruhigend und quälend. Für sie ist diese Verarmung ihrer Körperempfindung fast nicht auszuhalten.

Für beide Gruppen kann es aber gleichermaßen dramatische Auswirkungen haben, wenn sie ein Körperteil nicht mehr richtig spüren. Es fehlen wichtige Warnsignale, die zum Leben dazugehören.

Jeder kennt die schlimmen Schmerzen, wenn man sich eine Blase gelaufen hat. Diese Schmerzen sind bei einem Menschen mit einer Polyneuropathie nicht vorhanden. Im ersten Moment mag man kein Problem darin sehen, aber mit dem Verlust des Schmerzempfindens verliert sich auch der Schutz, der hiervon ausgeht. Fehlt der Schutz durch die Schmerzempfindung, so fehlen ganze Dimensionen: nicht nur kleine Verletzungen bleiben unbemerkt, es fehlt auch die Selbstgewissheit, die wir alle aus unserem Körper beziehen.

Und was passiert bei einer solch gestörten Wahrnehmung nun mit der Blase? Sie wird möglicherweise platzen und darunter entsteht eine kleine Wunde. Unbemerkt kommt es zu einer Ausbreitung des Problems.

Eine solche kleine Wunde war vor 3 Wochen auch bei Frau Lange aufgetreten. Sie hatte sich ein Druckgeschwür unter dem Vorfußballen zugezogen und musste seither zweimal in der Woche in unsere Praxis zur Wundbehandlung und zum Verbandswechsel kommen. Eigentlich hätte ein Pflegedienst bei ihr zuhause den zweiten Verbandswechsel übernehmen können, aber Frau Lange wollte auf keinen Fall fremde Menschen in der Wohnung haben. Sie nahm dann lieber den Aufwand auf sich, zweimal pro Woche zu uns in die Praxis zu kommen.

Nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch die Form der eigenen Füße verändert sich durch die Polyneuropathie. Denn die kleinen Haltemuskeln im Fuß erlahmen und es entstehen an der Fußsohle beim Laufen Stellen mit hohem Druck. Hier bildet sich vermehrt Hornhaut, die als harte Hornhautschwiele etliche Millimeter dick werden kann. Sie wirkt im Schuh wie ein kleiner Stein auf dem der Patient beständig herumläuft.

Genauso war es bei Frau Lange auch geschehen. Bei ihr war es unter der Hornhaut zu einem Druckgeschwür gekommen. Wir hatten die Hornhautschwiele abgetragen und die Wunde darunter versorgt. Bisher war der Heilungsverlauf unkompliziert gewesen. Frau Lange hatte einen speziellen Verbandschuh bekommen, damit möglichst wenig Druck auf der Wunde lastet.

An diesem Montag zeige sich nun aber eine dramatische Veränderung. Frau Lange erzählte, dass am vergangenen Wochenende das linke Bein angeschwollen war. Sie hatte es daran gemerkt, dass sie ihre normale Hose nicht mehr anziehen konnte. Das Bein war zu dick, um ins Hosenbein zu passen.

Bei der Untersuchung war das gesamte linke Bein von der Ferse bis zur Leiste stark geschwollen und massiv gerötet. Ich war erschrocken, dass Frau Lange das Problem nur dadurch bemerkt hatte, dass sie ihre Hose nicht anziehen konnte. Jeder Patient ohne Polyneuropathie hätte stärkste Schmerzen gehabt und wohl auch die Schwellung selbst unangenehm gespürt.

Frau Lange hingegen schaute etwas unbeteiligt auf ihr linkes Bein, als wenn es ein ihr fremdes Objekt wäre. Sie konnte den dramatischen Befund nicht erfassen.

Das mussten wir nun übernehmen. Ich war um das Bein von Frau Lange sehr besorgt. Ich dachte an eine schwere Infektion, die sich im Bein ausgebreitet haben könnte und die im wahrsten Sinne des Wortes eine Gefahr für Leib und Leben von Frau Lange bedeuten konnte. Sie musste noch heute in das Krankenhaus eingewiesen werden.

Für Frau Lange war die Entscheidung, sich im Krankenhaus behandeln zu lassen, schwierig. Sie fühlte sich gut und hatte keine Beschwerden. Sie hatte sich für den Termin bei uns einfach eine weite Gymnastikhose angezogen und das Problem damit für sich vermeintlich gelöst. Sie mochte mir nicht recht glauben, dass ihr Zustand wirklich so ernst war, wie ich es dachte.

Ich überlegte, wie ich ihr helfen konnte, die Situation besser wahrzunehmen. Sie saß auf dem Behandlungsstuhl, das eine Bein in der Hose, das andere zur Behandlung außerhalb der Hose. Ich bat sie, die Hose ganz auszuziehen. So konnte sie ihre beiden Beine im Vergleich ansehen und mit den Händen befühlen. Jetzt erst fiel ihr der schlimme Zustand ihres linken Beines selbst auf und sie stellte fest, dass sich das linke Bein viel wärmer anfühlte.

Jetzt konnte ich das Krankenhaus anrufen und Frau Lange dort ankündigen. Ein Krankenwagen würde sie direkt aus unserer Praxis dorthin bringen.

Meine Erlebnisse mit dieser Patientin haben mich sehr beeindruckt. Einen solch weitreichenden Ausfall der Wahrnehmung für einen so dramatischen Zustand hatte ich zuvor noch nicht erlebt.

Für Frau Lange gab es einen glücklichen Ausgang. Durch die Behandlung im Krankenhaus ging die Infektion schnell zurück und sie konnte nach weniger als 2 Wochen wieder zurück nach Hause.

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