Ein Mann mit Angst vor Folgeschäden

Die Nachmittagssprechstunde beginnt und mein nächster Patient ist Herr Müller.

Bevor ich von ihm berichte, will ich aber unbedingt die Geschichte eines Laborwertes erzählen, der eine kleine Revolution ausgelöst hat: des HbA1c.

Die Bestimmung dieses Wertes ist für Ärzte und Patienten heute so selbstverständlich, dass man sich fast nicht mehr daran erinnern kann, wie es ohne ihn war. Dabei ist seine Einführung in die tägliche Arbeit gerade einmal 30 Jahre her. Vorher waren Ärzte und Patienten allein auf die Bestimmung von einzelnen Blutzuckerwerte angewiesen, und Patienten wurden regelmäßig zu Blutzucker-Tagesprofilen zu ihrem Arzt einbestellt.

Dies war ein mühseliges Unterfangen: Die Patienten mussten dazu an einem Tag mehrfach zu unterschiedlichen Zeiten in die Praxis für eine Blutentnahme kommen. Die Proben wurden dann ins Labor geschickt und die Ergebnisse einige Tage später besprochen. Denn zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine verlässliche Methode für die Blutzuckermessung direkt beim Arzt oder gar durch den Patienten selbst.

Ich erinnere mich noch gut an die Zeit meines Zivildienstes in den 1980er Jahren. Damals gab es im gesamten Krankenhaus nur ein einziges Messgerät, mit dem man außerhalb der Dienstzeiten des Labors den Blutzucker messen konnte. Dieses Gerät wog über 1 kg und wurde in einem kleinen blauen Koffer an zentraler Stelle neben dem Notfallkoffer aufbewart und bei Bedarf auf die entsprechende Station getragen.

Die Beurteilung, ob der Diabetes des Patienten gut oder schlecht eingestellt war, musste also auf der Basis von Momentaufnahmen des Blutzuckers erfolgen. Dabei war schon lange klar, dass eigentlich die Mittelwerte aller Blutzuckerwerte eines Patienten in die Beurteilung der Stoffwechsellage einbezogen werden mussten, denn alles andere hatte weniger Aussagekraft.

Der HbA1c ist ein ziemlich verlässliches Maß für den Mittelwert des Blutzuckers der letzten 2-3 Monate, und mit seiner Einführung veränderte sich die Betrachtungsweise des gesamten Diabetes massiv. Von nun an waren die einzelnen Blutzuckerwerte gar nicht mehr so entscheidend, wenn nur der HbA1c im gewünschten Bereich lag. Aus einer lupenartigen Momentaufnahme der Diabeteseinstellung war ein Übersichtsfoto aus großer Höhe geworden.

Von der Geschichte des HbA1c-Wertes weiß Herr Müller nichts. Für ihn gehört der HbA1c-Wert zu den Besprechungen bei mir schon immer dazu. Er hatte in der Schulung gelernt, dass es einen Zielwert gibt, den er erreichen sollte, damit sein Risiko für die Entwicklung von Folgeschäden möglichst niedrig ist und hatte erfahren, dass ich immer dann eine Veränderung der Therapie vorgeschlagen habe, wenn der HbA1c angestiegen war.

Auf diesem Wege waren wir in den vergangenen Jahren von nur einem blutzuckersenkenden Medikament auf die Kombination von zwei verschiedenen Medikamenten gewechselt und hatten diese Stufe für Stufe in der Dosis gesteigert.

Heute betritt Herr Müller mein Sprechzimmer und ist anders als sonst. Er scheint nervös zu sein und schaut mich kaum an. Sein Blick ist vielmehr auf den Monitor auf meinem Schreibtisch gerichtet, und er sitzt auf der vorderen Kante seines Stuhls. Mein Versuch, an unser Gespräch vom letzten Termin anzuknüpfen, misslingt. Herr Müller hatte eine längere Reise mit seinem Wohnmobil geplant und wollte fast 2 Monate unterwegs sein. Aber heute will er ganz offensichtlich darüber nicht plaudern, sondern wartet in ängstlicher Anspannung auf meine Mitteilung über die Ergebnisse der Blutuntersuchung.

Dabei ist es gerade der HbA1c-Wert, der ihn besonders interessiert. Dieser Wert repräsentiert für ihn eine Mitteilung über Sieg oder Niederlage. Dazwischen gibt es für ihn keine Abstufungen.

Dass dies vielen Patienten so geht, halte ich für keinen Zufall, denn in den vergangenen Jahren hat sich der HbA1c zu dem Maß entwickelt, das über Wohl oder Wehe der Gesundheit eines Patienten zu entscheiden scheint. Die Qualität der Stoffwechsellage wird nur noch am HbA1c festgemacht; in den Leitlinien werden Zielwerte vorgegeben, die es zu erreichen gilt. Auch hier gibt es nur noch erreicht oder nicht-erreicht und keine Abstufungen. Die Wahrheit ist jedoch – wie so oft – komplizierter, und die Abstufung findet auf einem fließenden Übergang von Grauwerten statt. Hat man aber erstmal einen Zielwert festgelegt, wird dieser Übergang nicht mehr wahrnehmbar.

Herr Müller zum Beispiel ist immer in großer Sorge, wenn der gemeinsam vereinbarte Zielwert auch nur um 0,1 Punkt nicht erreicht wird. Er hat die Vorstellung, dass Chaos und höchstes Risiko auf ihn warten. Dabei besteht für Herrn Müller zwischen dem überschrittenen Zielwert und den von ihm befürchteten Diabetes-Komplikationen eine direkte und schnelle Verbindung. Dieser Zusammenhang ist richtig und falsch zugleich: Richtig, weil das Auftreten von Diabetes-Folgeschäden kausal mit der Qualität der Stoffwechsellage verbunden ist. Falsch, weil das Risiko durch einen einzelnen erhöhten Wert, sei es nun ein Blutzucker- oder ein HbA1c-Wert, nur ganz unwesentlich gesteigert wird und weil die Überschreitung der Zielwerte schon sehr deutlich und über längere Zeit bestehen muss, damit das Risiko nennenswert ansteigt.

Die Befürchtung, dass die Überschreitung seines HbA1c-Zielwertes zu dramatischen Folgeschäden führt kannte ich von Herrn Müller. Daher habe ich einen günstigen Zielbereich gewählt. Was also ist ein günstiger Zielbereich? Er muss sowohl ein niedriges Risiko für Langzeitschäden durch zu hohe Blutzuckerwerte als auch für Hypoglykämien haben. Und er muss für den Patienten erreichbar sein. Ich hatte den Eindruck, dass Herr Müller sich mit diesem Zielbereich stets sicher gefühlt hatte.

Umsomehr bin ich deshalb über seine heutige starke Unruhe erstaunt. Sein HbA1c-Wert liegt im Zielbereich, aber diese Mitteilung führt nicht zu einer Entspannung zwischen uns. Nur sehr zögerlich deutet Herr Müller an, was ihn so besorgt. Ob ich mir sicher sei, dass ein niedrigerer Zielbereich nicht vielleicht doch besser sei, möchte er wissen. Ich hätte ihn bei den letzten Terminen immer so angenehm beruhigt, aber vielleicht hätte ich ihm auch nur nicht die ganze Wahrheit zumuten wollen.

Ich bin ratlos. Warum ist Herr Müller heute in Sorge, ich könnte ihn und mich in falscher Sicherheit wiegen?
Während er mir von seiner Angst vor Folgeschäden erzählt, kommt mit plötzlich eine Erinnerung an die Situation, als ich ihn heute aus dem Wartezimmer abgeholt habe. Dort wartete eine Patientin auf einen Termin bei meinem Praxispartner. Sie ist blind. Sie ist blind als Folge ihres langjährigen Diabetes.

Ich selbst betreue auch eine blinde Patientin. Dabei passiert mir folgendes regelmäßig: Das Zusammentreffen mit meiner blinden Patientin erschreckt mich. Der Einfluss einer durch den Diabetes erblindeten Patientin wirkt nicht nur auf meine Patienten, sondern auch auf mich als Arzt ein. Bei allen nachfolgenden Patienten unterliege ich dann dem Argwohn, sie könnten nicht gut genug eingestellt sein, und ich bin dann immer in der Gefahr, mich mit einer guten Diabetes-Einstellung nicht zufrieden zu geben.

Genau dies war jetzt Herrn Müller passiert. Das Risiko, eine dramatische Diabetes-Komplikation zu entwickeln, war für ihn bisher völlig abstrakt geblieben. Nach dem Zusammentreffen mit einer Blinden ist das Risiko jetzt aber schlagartig konkret geworden und seine große Angst für mich gut nachvollziehbar.

Was ist nun zu tun, um dieser Angst zu begegnen? Das Risiko für die Katastrophe einer Erblindung ist gering, aber real. Eine Verschlechterung des Sehvermögens als Folge des Diabetes tritt aber nicht von heute auf morgen auf. Der Augenarzt kann schon geringste Veränderungen am Augenhintergrund erkennen, die keine Einschränkung des Sehvermögens hervorrufen und in diesem Stadium gut behandelbar sind. Regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen helfen, die große Masse der Patienten zu beruhigen, die gar keine Augenhintergrundsveränderungen haben.

Herrn Müller habe ich aus dem letzten Jahr meines Medizinstudiums erzählt. Damals hatte ich für 4 Monate auf einer onkologischen Krankenstation gearbeitet. Nach wenigen Wochen war hierdurch in meiner Vorstellungswelt Krebs zur häufigsten Erkrankung überhaupt geworden, denn alle Patienten, mit denen ich zu tun hatte, waren an den verschiedensten Krebsarten erkrankt.
Obwohl es mir schwer fiel, musste ich mir immer wieder bewusst machen, dass in der Realität Krebs eine seltene Krankheit ist. Durch das greifbare Elend von an Krebs erkrankten Patienten hatte sich meine Wahrnehmung entscheidend verschoben.

Die Schilderung meiner Erlebnisse haben Herrn Müller geholfen, wieder entspannter auf das Risiko für Folgeerkrankungen zu schauen. Er hat sich dann in seinem bewährten HbA1c-Zielbereich wieder wohl gefühlt.

Ich begann zu überlegen: Wie kommt es, dass unsere Angst vor einer abstrakten Bedrohung so häufig nicht mit der Realität übereinstimmt? Und wie kommt es, dass wir uns vor extrem unwahrscheinlichen Risiken so sehr fürchten?
Solche Verschiebung der Wahrnehmung wird häufig durch unseren Medien-Konsum ausgelöst. Im Radio, das wir schon auf dem Weg zur Arbeit im Hintergrund laufen lassen, werden wir oft mit angstmachenden Dingen konfrontiert. Wenn solche Informationen uns dann zusätzlich über Zeitungen, Fernsehen und Internet erreichen, beginnen wir uns vor Dingen zu fürchten, die am Ende kaum jemanden betreffen.

 

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