Ein junger Mann mit erhöhten Blutdruckwerten

Immer wieder begegne ich einer irritierenden Eigenart. Einer ärztlichen Eigenart. Diesmal bei einem gerade 18 Jahre alt gewordenen jungen Mann.

Alexander Ritter lernte ich kennen, kurz nach dem er volljährig geworden war. Er hat seit 5 Jahren einen Typ 1-Diabetes und muss seither Insulin spritzen. Bisher wurde er in der Ambulanz einer der Kinderkliniken in unserer Stadt betreut und wechselte nun zu mir in die Erwachsenenmedizin.

Typ 1-Diabetes ist eine relativ seltene Erkrankung. In Deutschland sind ca. 350.000 Menschen davon betroffen. Das sind 0,4 % der Bevölkerung. Bei ihnen fällt innerhalb von wenigen Wochen die Insulinproduktion vollständig aus, und sie sind ab dann auf Insulin-Injektionen angewiesen.
Der Typ 1-Diabetes tritt bevorzugt im Kinder- und Jugendalter auf. Die größte Erkrankungshäufigkeit liegt im Alter zwischen 10 und 14 Jahren.

Genau so war es auch bei Alexander Ritter gewesen. Er war dreizehn Jahre alt, als er heftigen Durst bemerkte, häufig zum Wasser lassen auf die Toilette musste und ungewollt Gewicht verloren hatte. Er war müde und kraftlos geworden. Beim Kinderarzt war die Diagnose gleich gestellt worden, und in der Kinderklinik wurde noch am selben Tag mit einer Insulintherapie begonnen. Für Alexander war die Insulinbehandlung zwar nervig, aber er war froh, dass die schweren Symptome schnell verschwunden waren und er sich wieder fit fühlte.

Innerhalb von 5 Jahren war Alexander die Diabetesbehandlung zur Gewohnheit geworden, und er kam gut damit zurecht. Zu seinem ersten Termin bei mir hatte er seine Befunde mitgebracht. Bei seinen Ambulanz-Terminen im Krankenhaus waren mehrfach leicht erhöhte Blutdruckwerte gemessen worden. Es wurde dort der Verdacht auf einen Bluthochdruck geäußert. Die Untersuchung bei einem Kinder-Kardiologen sollte die Klärung geben.

Bluthochdruck ist typischerweise eine Erkrankung von älteren Menschen. Bei Kindern oder Jugendlichen ist er eine Rarität. Meist ist er dann die Folge einer anderen Erkrankung. Häufig einer Nierenerkrankung.

Im Bericht des Kinder-Kardiologen fand sich das Ergebnis einer 24 Stunden-Blutdruckmessung. Der Blutdruck war über die gesamte Zeit normal gewesen, mit einer Tendenz zu niedrig-normalen Werten. Nach den Regeln der ärztlichen Kunst war mit dieser Untersuchung ein Bluthochdruck ausgeschlossen worden.
Dennoch enthielt der Arztbrief des Kinder-Kardiologen auf der ersten Seite die Verdachtsdiagnose auf einen Bluthochdruck.

Wie konnte dies sein? Ein Bluthochdruck war doch ausgeschlossen worden.

Hier zeigt sich eine Besonderheit, die ich gelegentlich bei mir selbst und meinen Kollegen beobachte: Wir haben als Ärzte eine Hemmung, jemanden für gesund zu erklären.

Was für eine irritierende Situation. Eine unangenehme und vielleicht sogar gefährliche Erkrankung liegt nicht vor, aber wir Ärzte trauen uns nicht, dies auszusprechen oder gar schriftlich niederzulegen. Anstelle weitere Untersuchungen zu unterlassen, schlagen wir dann gerne eine Kontrolle vor.

Woran liegt das? Mir kam dazu eine Idee.

Ärzte sind umgeben von kranken Menschen. Die Krankheit ist allgegenwärtig und der Regelfall. Daher gehen wir bei jedem Menschen, den wir im ärztlichen Kontext treffen, mehr oder weniger bewusst davon aus, dass auch er krank ist. Wir sind dabei nicht so weit von der Volksweisheit entfernt, die besagt, dass ein gesunder Mensch nur nicht genug untersucht worden ist. Wir können uns als Ärzte kaum von dem Gedanken lösen, dass ein Mensch in unserer Betreuung krank ist.

Hinzu kommt, dass uns häufig die Aufgabe zugewiesen wird, jede verborgene Krankheit zu entdecken. Diese Zuweisung ist zumeist unsprachlich und kommt aus unterschiedlichsten Quellen. Viele davon sind klischeehaft und nur schlecht fassbar.
Die Sorge, dass eine verborgenen Krankheit nur noch nicht ausreichend sichtbar und damit erkennbar ist, spiegelt sich gelegentlich in ärztlichen Befundtexten wider. Da ist dann ein Untersuchungsergebnis „noch“ normal, aber die möglicherweise kommende Verschlechterung schwingt schon deutlich hörbar mit. Nach einem solchen Befund ist für die nächste Kontrolle eigentlich kaum vorstellbar, dass der Wert immer „noch“ normal ist. Eigentlich muss er dann „nun doch“ erhöht sein.

Wenn wir eine verborgene Erkrankung nicht entdeckt und sie vermeintlich übersehen haben, machen wir uns Vorwürfe. Im typischen ärztlichen Duktus denken wir dann an Vorhaltungen des Patienten oder ganz dramatisch an einen Haftpflichtfall.
Um dieser unangenehmen Situation zu entgehen, neigen wir als Ärzte gelegentlich dazu, völlig normale Befunde zu relativieren.

Denn im Fall eines Normalbefundes sind zwei Situation möglich:

– Der Befund ist normal und der Patient ist gesund.
– Der Befund ist irrtümlich normal und der Patient ist in Wirklichkeit krank.

Die Wahrscheinlichkeit für den ersten Fall ist extrem groß, aber geheimnisvolle Kräfte führen dazu, dass wir den sehr seltenen Fall des irrtümlichen Normalbefunds für wahrscheinlich halten.

So war es auch bei Alexander Ritter. Er ist schon von einer sehr seltenen Krankheit betroffen und jetzt wurde, trotz einer unauffälligen 24 Stunden-Blutdruckmessung, der Verdacht auf eine weitere sehr seltene Krankheit gestellt. Die Wahrscheinlichkeit, an zwei seltenen Krankheiten zu leiden, ist extrem gering.
Wie konnte es sein, dass die Verdachtsdiagnose Bluthochdruck bei einem Jugendlichen dennoch fortgeführt wurde?
Ein Grund hierfür mag sein, dass die Werte in der Krankenhaus-Ambulanz mehrfach leicht erhöht waren. Es ist aber allgemein bekannt, dass die Blutdruckwerte, die in Praxen oder Ambulanzen gemessen werden, eigentlich nicht verwertet werden können. Durch die andere Umgebung sind die Werte dort häufig relevant erhöht. Da die 24 Stunden-Blutdruckmessung zuhause und im gewohnten Umfeld erfolgt, sind diese Werte verlässlich.

Bei der Beschäftigung mit diesem Thema fällt mir auf, dass die Neigung von uns Ärzten, Menschen nicht für gesund zu erklären, nur manchmal auftritt. Gelegenheit dazu gibt es aber sehr häufig. Gibt es Faktoren, die eine solche Fehlleistung fördern?

Ich denke ja.

In der Familie von Alexander Ritter zum Beispiel gibt es mehrere Ärzte. Bei Angehörigen eines Kollegen ist die vermeintliche Fallhöhe des Behandlers bei einer Fehlleistung deutlich erhöht. Wir sind uns als Ärzte zwar darüber bewusst, dass fehlerfreies Handeln gar nicht möglich ist, bei einem Kollegen oder seinem Angehörigen darf es aber nun auf keinen Fall passieren. Also machen wir lieber eine Kontrolle mehr und lassen eine Verdachtsdiagnose bestehen.

Gleiches gilt auch für Menschen, die einem persönlich am Herzen liegen, wie zum Beispiel Freunde oder Familienangehörige. Trotz allen Bemühens sind wir Ärzte in dieser Situation nicht in der Lage, Befunde und Beschwerden objektiv zu beurteilen.

Auch schwangere Frauen lösen ein solches Verhalten häufig in uns aus. Wir fühlen uns dem ungeborenen Leben in besonderer Weise verpflichtet und wollen keine Chance verstreichen lassen. Dazu kommt die knappe Zeit bis zum Ende der Schwangerschaft, die unseren inneren Druck noch verstärkt.
Ganz praktisch erlebe ich das immer wieder beim Thema des Schwangerschaftsdiabetes. Es gibt hier eine gute Leitlinie und klare Grenzwerte für die Diagnose. Dennoch passiert es mir selbst und meinen Kollegen immer wieder, dass wir Schwangeren mit Testergebnissen, die eindeutig, aber knapp unterhalb der Diagnoseschwelle liegen, dennoch lieber zu einer Kontrolle raten.

Die hier beschriebene Eigenart im ärztliche Denken und Handeln trägt in sich etwas Reflexartiges. Dies zeigt sich in ihrem fast unwillkürlichen und überraschenden Auftreten. Sie wird durch äußere Umstände begünstigt und birgt in sich die Gefahr von Fehlleistungen.

Wie bei allen scheinbar selbstverständlichen Handlungen kann man auch hier den Reflexbogen unterbrechen.
Die Möglichkeit hierfür bietet Reflexion in einem entspannten Dialog. Philosophen beschreiben Reflexion seit jeher als fruchtbare Form der Selbstbeobachtung und der Vernunfterkenntnis.

Durch dialogische und gezielte Reflexion erlangt man die Möglichkeit, Quellen möglicher Fehlleistungen aufzuspüren. Danach passieren sie einem nicht mehr so oft.

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1 Kommentar



  1. Lieber Andreas,
    der Beitrag gefällt mir ganz besonders! gut. Wie weit außerhalb des ärztlichen Normalverhaltens Du damit liegst, erlebe ich jeden Tag. Manchmal leider auch bei mir selbst.
    Lieber Gruß
    Harm

    Harm Hammer vor 10 Jahren