Eine Patientin kümmert sich nicht um ihren Diabetes

Immer wieder treffe ich Patienten, deren Handeln mir rätselhaft erscheint. Eine solche Patientin ist auch Frau Moor. Frau Moor ist 25 Jahre alt und hat seit ihrer Kindheit einen Typ 1-Diabetes. Sie spritzt sich seit mehr als 20 Jahren Insulin. Ich sehe sie in meiner Sprechstunde äußerst selten, meist kommt sie nur alle 1-2 Jahre. Dann ist immer irgendetwas Dramatisches passiert, und sie kommt spontan ohne einen Termin.

So ist es auch heute, und ich gerate dadurch unter Zeitdruck. Die Patienten mit einem Termin erwarten von mir, dass ich pünktlich bin.

Frau Moor erzählt mir, dass es ihr in den letzten beiden Tagen nicht gut ging. Ein Magen-Darm-Infekt hatte sie erwischt und fest im Griff. Sie fühlt sich völlig matt und ausgelaugt.

Was denn die Blutzuckerwerte machen würden, frage ich. Die hat sie gar nicht gemessen. Zuletzt vor drei oder vier Tagen. Da lag der Blutzucker bei 390 mg/dl. Viel zu hoch.

Ich bin erschrocken. Bei Menschen mit einem Typ 1-Diabetes kann ein heftiger Magen-Darm-Infekt zu einer schweren, lebensbedrohlichen Stoffwechselentgleisung führen.

Um solche Entgleisung rechtzeitig zu bemerken und dann zu behandeln, muss man unbedingt die Blutzuckerwerte messen. Warum war Frau Moor so unvernünftig gewesen, dies nicht zu tun? Ich stand vor einem Rätsel.

 

Bis vor einiger Zeit habe ich ein solch unvernünftiges Verhalten verurteilt. Mit dem etablierten ärztlichen Blick handelt es sich um eine Selbstvernachlässigung, vielleicht sogar eine Autoaggression. Als Arzt, so hatte ich es übernommen, muss man hier entschieden handeln und die Patienten vor sich selbst schützen.
In der Regel habe ich dann deutliche Anweisungen ausgesprochen, in der Hoffnung, eine Änderung zu erzielen.
Gelungen ist das eigentlich nie. Ich hatte aber keine Idee, was ich sonst machen sollte. Immerhin handelte es sich zumeist um bedrohliche Situationen.

Auf einer Fortbildung mit der Psychologin Susan Clever erfuhr mein Blick eine deutliche Veränderung. Von ihr lernte ich, dass Menschen eigentlich immer aus guten Gründen handeln. Ein wirklich absichtsvoll destruktives Verhalten ist die absolute Ausnahme.
Das Problem ist aber, dass die guten Gründe häufig sehr verborgen liegen und die Patienten sie nie von selbst ansprechen. Ihre Empfehlung war es daher, die Patienten nach ihren „guten Gründen“ zu fragen.

Das habe ich seither mehrfach getan und immer wieder Erstaunliches erlebt. Zwei Patienten sind mir dabei besonders in Erinnerung geblieben.

Frau Wenzel, eine Anfang 60 jährige Patientin, strebt sehr niedrige Blutzuckerwerte an. Eigentlich ist sie nur zufrieden, wenn der Blutzucker nicht höher als 100 mg/dl liegt. Ihren HbA1c-Wert möchte sie am liebsten in einem Bereich unterhalb von 6 % halten. Sie spritzt Insulin und berechnet ihre Insulindosen immer so, dass daraus Werte im von ihr gewünschten Bereich resultieren.

Nun ist seit einigen Jahren durch wissenschaftliche Untersuchungen belegt, dass nicht nur hohe, sondern besonders auch sehr niedrige Blutzuckerwerte eine Gefahr für die Menschen mit Diabetes darstellen. Mehrere Untersuchungen zeigen, dass zu niedrige Blutzuckerwerte das Risiko für Herzinfarkt und Demenz erhöhen und sogar die Lebenserwartung verkürzen können.
Vor diesen Gefahren wollte ich Frau Wenzel schützen. Ich erzählte ihr von den neuen Forschungsergebnissen und riet ihr, ihren Diabetes nicht so streng einzustellen.
Sie hat ihr Verhalten aber nicht geändert, und bei mehreren Kontrollen war ihr Diabetes weiterhin zu niedrig eingestellt. Auch hatte sie mehrere dramatische Unterzuckerungen erlitten.

Bei einem der nächsten Termine fragte ich Frau Wenzel dann, warum sie ihren Diabetes so niedrig einstellt. Sie habe sicherlich ihre guten Gründe dafür.
Frau Wenzel kannte ihre „guten Gründe“ sehr genau. Sie erinnerte mich daran, dass sie bis vor 7 Jahren eine sehr schlechte Diabetes-Einstellung gehabt hatte. Trotz intensiver Bemühungen war es nicht gelungen, gute Blutzuckerwerte zu erzielen: die Werte lagen um 250 mg/dl, durchweg viel zu hoch. Die Umstellung auf eine Insulinpumpe brachte dann die Wende.
Frau Wenzel will durch ihre niedrigen Blutzuckerwerte heute einen Ausgleich für die bedrohlich hohen Werte von früher schaffen.

 

Der zweite Patient der mir einfällt, ist Herr Meier. Herr Meier ist Anfang fünfzig und hat beständig sehr hohe Blutzuckerwerte. Fast nie finden sich in seinem Blutzuckertagebuch Werte kleiner als 200 mg/dl. Sein HbA1c, also der Langzeitblutzuckerwert, liegt bei 9,5 %. Günstig wären Werte zwischen 7,0-7,5 %, was mittleren Blutzuckwerten von etwa 120 mg/dl entspricht.
Die zu hohen Blutzuckerwerte von Herrn Meier erhöhen auf längere Sicht sein Risiko, schwere Folgeschäden an Augen, Nieren oder Nerven zu erleiden. Ich war besorgt.

Auch Herrn Meier hatte ich zahlreiche Vorschläge für eine Veränderung seiner Diabetestherapie gemacht. Er spritzt mehrfach täglich Insulin, und ich hatte bei jedem Termin eine Steigerung der Dosis empfohlen. Aber auch Herr Meier hat meine Empfehlungen nicht umgesetzt. Jedes Mal wenn die Sprache darauf kam, spürte ich einen Widerstand bei ihm und eine Anspannung bei mir. Ich hatte aber keine Ahnung, warum.

Das änderte sich, als ich auch Herrn Meier nach seinen guten Gründen fragte. Er erzählte mir von seiner Sorge, die Arbeit zu verlieren. Er muss beruflich viel Auto fahren und hat Angst, dass er wegen einer Unterzuckerung am Steuer seinen Führerschein verlieren könnte. Daher hat er sich selbst einen Zielbereich von 200 mg/dl ausgewählt, damit er von der Unterzuckerungsgrenze möglichst weit entfernt liegt.
Die Sorge um seinen Arbeitsplatz war geradezu greifbar.

 

Mit den Erinnerungen an diese Patienten habe ich Frau Moor gefragt, was ihre „guten Gründe“ sind, sich um ihren Diabetes so wenig zu kümmern. Sie spritzt eigentlich nur einmal am Tag ein Langzeitinsulin und misst fast nie ihren Blutzucker. Dramatisch hohe Blutzuckerwerte sind die Folge.

Frau Moor wurde bei meiner Frage etwas verlegen. Mit leiser Stimme erzählte sie mir dann, dass sie am liebsten möchte, dass der Diabetes gar nicht da ist. Eine lange Pause entstand.

Das Blutzuckermessen, die Insulininjektion und besonders die Arzttermine würden sie an den Diabetes erinnern. Daher würde sie versuchen, dies alles so weit wie möglich zu vermeiden. Das Langzeitinsulin würde sie regelmäßig spritzen, da sie sonst schnell im Krankenhaus landen würde. Das hatte sie bereits erlebt, als sie das Insulin mal vergessen hatte.

Ich habe mir angewöhnt, in Situationen wie diesen meine Patienten nach ihren guten Gründen zu fragen. Aus den Erzählungen der Patienten entsteht dann manchmal ein Ansatzpunkt für eine Lösung.
So traute sich zum Beispiel Herr Meier im Verlauf an einen etwas niedrigeren Blutzucker-Zielbereich heran. Dieser lag zwar immer noch höher als der Idealwert, hat aber ein niedrigeres Risiko für Folgeerkrankungen.

Bei Frau Moor gab es leider keine so schnelle Lösung. Den Stachel, dass sie an einer schweren chronischen Erkrankung leidet, konnte ich ihr nicht nehmen. Denn es gibt bisher keine Heilung für einen Typ 1-Diabetes.
Aber unsere Beziehung hat sich deutlich verbessert, seitdem ich ihre guten Gründe kenne. Unsere Gespräche verlaufen entspannter.

0 Kommentare Artikel twittern