Die Geschichte einer älteren Dame mit vielen Fragen

Wenn Frau Uhland zu mir in die Sprechstunde kommt, dann ist immer etwas Besonderes passiert. Sie kommt daher auch nicht zu einem vorher geplanten Termin, sondern ruft die Arzthelferinnen an, um einen ganz kurzfristigen Zwischentermin zu vereinbaren. Nach längerer Pause ist sie heute wieder einmal da, und ich bin gespannt.

Schon auf dem Weg vom Warte- zum Sprechzimmer bestürmt sie mich mit ersten Informationen: „Mit mir ist nichts mehr los“ bekomme ich zu hören, bevor wir auch nur sitzen. Sie wirkt agil und lebendig. Sie ist 78 Jahre alt, dabei schlank, beweglich und elegant. Mir fällt eine Designer-Sonnenbrille auf, die sie sich ins Haar gesteckt hat und mehrere Ringe an den Fingern, so ungewöhnlich, dass ich sie betrachten muss. Wie immer hat sie sich auf einem Zettel notiert, was sie mir mitteilen will. Mit einem dicken Druckbleistift schreibt sie in altmodischer, aber gut lesbarer Schrift.

„Herr Dr. Klinge: seit gestern bin ich immer so schwindelig. Ich glaube, ich kippe um. Hoffentlich geht das gut. Ich will doch übermorgen verreisen, aber das kann ich so bestimmt gar nicht. Was soll ich nur tun?“ bringt sie so schnell und intensiv heraus, dass ich schon vom Zuhören schwindelig und etwas kurzatmig werde. Ohne Pause springt sie zum nächsten Punkt auf ihrem Zettel und bedrängt mich mit der Frage, ob sie ihren Säureblocker gegen das unangenehme Sodbrennen denn immer noch nehmen soll. Ob wir nicht mal wieder eine Magenspiegelung vornehmen müssten und ob nicht doch eine Blutuntersuchung notwenig ist.

Zum Glück kenne ich Frau Uhland schon ein paar Jahre und bin mit ihrer druckvollen Art inzwischen vertraut geworden. Als ich sie noch kurz kannte, bin ich während der Konsultation immer ganz „wuschig“ geworden und verlor für eine Zeit meine Fähigkeit, klar zu denken. Ich habe sie dann abrupt gestoppt und sie ermahnt, die Probleme einzeln vorzutragen. Es ist nicht meine Art, so zu reden, aber bei Frau Uhland schien es mir nicht anders möglich. Ich war über mich selbst erstaunt.
Genützt hat es übrigens gar nichts. Frau Uhland war nach einer solchen Ermahnung ganz schuldbewusst und wirkte eingeschüchtert. Aber ihre Probleme konnte sie nunmal nicht strukturierter vortragen.

Vielen Patienten fällt es mitunter schwer, ihre Anliegen beim Besuch in der Sprechstunde in eine handhabbare Form zu bringen. Sie sind sich häufig ihres Anliegens, das sie zum Arzt geführt hat, gar nicht bewusst und können es nicht genau benennen. Dann ist die teilweise kriminalistisch anmutende Arbeit gefordert, dass eigentliche Problem zu ergründen und zu Tage zu fördern. Dazu bedarf es häufig einer Übersetzungsleistung. Hierbei werden die ungeordneten Schilderungen sortiert, abstrahiert und zusammengefasst. Diese Phase ist außerordentlich spannend, denn häufig kann der Patient nach einer ersten Zusammenfassung durch den Arzt seine Beschwerden präzisieren und selbst besser erkennen. Aus nicht zusammenhängenden Symptomschilderungen wird im Gespräch zwischen Arzt und Patient dann Schritt für Schritt eine immer akkuratere Beschreibung des Problems.

Mit Frau Uhland hatte ich bereits Termine, bei denen ich ihre zahlreichen Anliegen sortieren und formatieren musste. Ich habe dabei gelernt, dass ich mich von ihrer Unruhe nicht anstecken lassen darf, da ich sonst auch die Form zu verlieren drohe. Ich bin dann in der Gefahr, mit ärztlichen Automatismen zu reagieren: wegen des Sodbrennens eine Gastroskopie, wegen des Schwindels eine Überweisung zum Neurologen. Die Reihe lässt sich leicht fortsetzen. Nichts davon ist eigentlich falsch, aber bei vielen Patienten kommt man damit einer Lösung des Problems nicht näher, denn das eigentliche Problem ist in dieser frühen Phase noch gar nicht erkennbar. Zusätzlich trägt jede in dieser Phase veranlasste Untersuchung das Risiko in sich, dass unwichtige, nicht relevante Zufallsbefunde die Komplexität das Problems erhöhen und vom eigentlichen Weg in die Irre führen können.

Viele Patienten sind mit solch ärztlichen Automatismen aber sehr zufrieden. Sie scheinen sogar zu erwarten, dass jede Beschwerde in irgendeiner Form eine ärztliche Aktion auslöst. Nicht selten sind sie unzufrieden, wenn auf die drängende Schilderung von Beschwerden keine typische ärztliche Maßnahme erfolgt.

Auch Frau Uhland ist gar nicht damit einverstanden, dass ich ihre wechselnden Beschwerden nur anhöre und nicht gleich eine ärztliche Maßnahme vorschlage. Sie führt bei unseren Gesprächen immer eine Art Protokoll, indem sie meine Kommentare oder Vorschläge direkt neben ihr Anliegen auf den von ihr mitgebrachten Zettel schreibt. Wenn ich auf ein Problem auf ihrem Zettel keine direkte Aktion oder Antwort anbiete, weiß sie nicht, was sie notieren soll.

Mit der Zeit habe ich festgestellt, dass Frau Uhland eine Vorliebe für organisierte Städtereisen hat. Sie freut sich immer sehr auf die besonderen Orte, die dabei besucht werden. Kurz vorher wird sie aber dann von einer ängstlichen Vorahnung ergriffen und befürchtet, den Anstrengungen der Reise nicht gewachsen zu sein. Sie gerät dabei in einen Zustand, in dem sie intensiv beobachtet, ob sie nicht Symptome einer herannahenden Erkrankungen bei sich entdeckt. Bei diesem In-sich-hinein-Horchen wird sie dann von einer Vielzahl von harmlosen Beschwerden überschwemmt und stellt sich in großer Sorge ein oder zwei Tage vor der Abreise bei mir vor.

Bei den ersten Episoden dieser Art hatte ich den spontanen Impuls, ihr von einer Reise abzuraten. Bei ruhigerer Betrachtung konnte ich aber gar keinen Grund für einen solchen Ratschlag finden. Frau Uhland erfreut sich jedesmal bester Gesundheit und ist sehr vital. Ich habe ihr daher dazu geraten, die Reise doch anzutreten, auf die sie sich ja auch freute. Ich sei nicht in Sorge, dass sie auf der Reise ernsthaft erkranken würde. Sie war über meine Sicherheit zunächst sehr erstaunt. Ob ich nicht doch noch eine Blutuntersuchung veranlassen wolle, um mir ganz sicher zu sein. Nachdem ich diesem Drängen mehrfach nicht nachgegeben hatte, verlangte sie bei ähnlichen Anlässen gar nicht mehr danach.

So haben sich mit der Zeit unsere Besprechungen anlässlich der anstehenden Reisen verändert. Das zeigt sich auch bei unserem heutigen Termin. Nachdem sie die Liste mit ihren Beschwerden vorgetragen hat, meinte sie, dass sie sich ja mittlerweile kennt. Dies ist nunmal ihr typisches Befinden vor einer Reise. Doch holt sie sich immer noch gerne meine Bestätigung ein, damit ihr kein Ungemach droht. Ihre Beschwerden waren auch heute wieder ganz harmlos. Ich habe ihr diesen Gefallen gerne getan.

Die Erlebnisse mit Frau Uhland führten mich zu der Frage, wie man mit den Wünschen der Patienten nach ärztlichen Automatismen denn am besten umgehen soll. Mir kamen dabei zwei Extreme der Betrachtung in den Sinn:

In einem Extrem würden alle Beschwerdeschilderungen des Patienten zu keiner weiteren Aktion führen, um auf keinen Fall bedeutungslose Maßnahmen zu ergreifen.

Im anderen Extrem würde jede vom Patienten geäußerte Beschwerde mit allen Maßnahmen beantwortet, die auch nur einigermaßen hilfreich sein könnten, um „die Symptome weiter abzuklären“ und nichts zu übersehen.

In der Realität bewegen wir uns als Ärzte immer irgendwo zwischen diesen Extremen und nehmen meist selbst gar nicht wahr, welchem Pol wir gerade näher sind. Wahrscheinlich hat jeder Arzt für sich eine Tendenz zu der einen oder anderen Seite die für ihn spezifisch ist und durch seine Persönlichkeit und seine Erfahrungen geprägt wurde. Letztlich hat jeder seinen persönlichen Bereich auf dieser Skala in dem er variiert.

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