Die Geschichte einer Frau mit Typ 1-Diabetes

Als ich mit der Nachmittagssprechstunde beginne und mir die Liste der Patienten für die nächsten zwei Stunden ansehe, entdecke ich den Namen von Frau Abel.

Frau Abel ist schon seit fast 10 Jahren meine Patientin, aber sie kommt nur selten zu mir in die Sprechstunde.
Anfänglich hat mich das sehr gestört. Ihr Diabetes ist meist nicht sonderlich gut eingestellt und bei unseren Treffen habe ich immer sehr aktiv Vorschläge gemacht, wie sie eine Verbesserung erzielen könnte. Veränderungen der Insulindosis, Tipps wie sie Bewegung besser in den Tagesablauf integrieren kann und das leidige Thema des Führens eines Blutzucker-Tagebuchs. Ich habe ihr immer wieder das gesamt Repertoire der praktischen Diabetologie als Hilfe angeboten. Dazu gehörte auch das Angebot zur Teilnahme an einer Diabetiker-Schulung. Bei uns in der Praxis oder in der darauf spezialisierten Klinik in unserer Stadt.

Frau Abel hat auf alle meine Angebote immer sehr freundlich, aber kühl und distanziert reagiert. Mein Eindruck war, dass Sie keinen meiner Vorschläge umsetzen würde und sich zwischen uns so etwas wie eine Glasscheibe befand. Leicht milchig. Sie ist nie zu einer Schulung gegangen. In meine Sprechstunde kam sie einmal im Jahr und ich hatte den Eindruck, sie tat es um einer Pflicht genüge zu tun. Sie bat um die Verordnung der notwendigen Medikamente und manchmal brauchte sie auch ein Attest für eine anstehende Flugreise. Auf diesem Wege hat sie den Kontakt zu mir nie ganz abreißen lassen.

Schaut man nur auf den HbA1c-Wert, ist Frau Abel bei der Behandlung ihres Diabetes wenig erfolgreich. Der Wert, den sie ein- bis zweimal pro Jahr bei mir bestimmen lässt, liegt deutlich zu hoch. Lange Zeit hatte ich die Vorstellung, ich müsse daran etwas ändern.

In dieser Zeit begegnete ich bei Fortbildungen und wissenschaftlichen Tagungen immer wieder dem Begriff der Akzeptanzstörung. In unterschiedlichen Vorträgen und bei der Vorstellung von Kasuistiken wurde dieses Phänomen erwähnt, das wohl jeder Arzt bei Patienten mit chronischen Erkrankungen kennt.

Dabei geht es darum, dass ein Mensch sich nicht damit abfinden kann, lebenslang krank zu sein. Im Fall des Diabetes muss er zusätzlich eine belastende und belästigende Therapie durchführen, um eine Entgleisung seines Stoffwechsels zu vermeiden. Im Falle einer Akzeptanzstörung gelingt die Umsetzung dieser Behandlung nur unzureichend. Zu hohe Blutzuckerwerte sind die Folge.

Für Patient und Arzt gilt es in einem solchen Fall, eine Spannung auszuhalten. Die Spannung, dass es zwischen dem Empfehlenswerten und dem Möglichen eine Differenz gibt. Dies ist sowohl für den Patienten als auch für den Arzt anstrengend und schwierig.

Auf der Seite des Arztes kann diese Spannung dazu führen, in eine beurteilende Haltung abzurutschen. Gegenüber dem Patienten kommt dies einer unausgesprochenen Aufforderung gleich: „Nun akzeptieren sie doch endlich ihre Diabeteserkrankung!“

Im Nachhinein bin ich über mich selber erstaunt: ich hatte mir diese beurteilende Haltung zu eigen gemacht. Damals habe ich das überhaupt nicht bemerkt. Ich war froh, mit der Akzeptanzstörung endlich einen fassbaren Begriff für dies häufige und auch für mich als Arzt belastende Phänomen zu haben. Ich hatte jetzt einen Namen für das Problem gefunden, kam aber mit meinen Patienten nicht weiter als zuvor.

Im Verlauf der Jahre kam ich zunehmend ins Zweifeln. Muss ein Patient wirklich akzeptieren, dass er eine chronische Krankheit hat? Und was genau bedeutet das Wort Akzeptanz?

Im Brockhaus von 2005 findet sich der Begriff gar nicht. In der Ausgabe von 1986 wird Akzeptanz als „zunächst bejahende … Einstellung von Personen gegenüber normativen Prinzipien“ definiert. In der Wikipedia findet sich eine Definition die über das lateinische Wort accipere die Bedeutung der Akzeptanz als „gutheißen, annehmen, billigen“ definiert. Zusätzlich wird beschrieben dass „Akzeptanz ein zustimmendes Werturteil ausdrückt“.

Je länger ich darüber nachdachte, desto sicherer war ich mir. Es kann nicht gesund sein, eine Erkrankung wie den Diabetes zu bejahen und gutzuheißen. Ein freudig an Diabetes erkrankter Mensch kommt mir wie ein Zerrbild von Compliance vor. Warum sollte man einen Übelstand von der Größe eines Diabetes akzeptieren? Eine chronische Erkrankung wie einen Diabetes zu haben, ist ein Stachel der für immer bleibt.

Noch bis weit in die 1980er Jahre hinein war das Compliance-Modell das einzig anerkannte Modell für die Arzt-Patienten-Beziehung. Der Arzt hat gegenüber dem Patienten in diesem Modell eine übergeordnete Rolle. Er gibt die Ziele der Behandlung vor und legt fest, wie sie umgesetzt werden. Der Patient wird hierbei nicht nach seinen Wünschen gefragt und erhält im Zweifel gar nicht alle vorliegenden Informationen. Es war zum Beispiel nicht allgemein üblich, dem Patienten eine Krebsdiagnose mitzuteilen. Er musste den Vorgaben des Arztes blind vertrauen.

Vom Patienten wird im Compliance-Modell die Befolgung der ärztlichen Anordnungen erwartet. Wenn der Arzt entscheidet, dass ab jetzt eine Insulintherapie notwendig ist, muss der Patient sie durchführen, also gehorsam sein. Tut der Patient dies nicht, hat er keine Compliance.

Frau Abel wäre in diesem Modell ein Fall von Non-Compliance. Sie führt die ärztlichen Anordnungen nicht umfassend und korrekt durch. Der mangelnde Erfolg, der sich in den zu hohen Blutzuckerwerten zeigt, ist ihre Schuld und Folge ihrer Eigenwilligkeit, mit der sie sich den ärztlichen Anordnungen widersetzt.

In der Diabetologie hat in den 1990er Jahren das Empowerment-Modell Einzug gehalten. In diesem Modell geschieht nichts ohne Einverständnis und Zustimmung des Patienten. Die Rolle des Arztes unterscheidet sich deutlich vom Compliance-Modell.

Der Arzt gibt nicht vor welche Behandlung durchgeführt wird. Er stellt alle Optionen möglichst objektiv im Rahmen eines Beratungsgesprächs dar. Auch weist er auf mögliche Risiken hin. Die Entscheidung trifft der Patient dann auf der Basis dieser umfassenden Informationen. Seine Entscheidung gilt, auch wenn der Arzt eine andere Entscheidung bevorzugt hätte.

Der Patient wird seine guten Gründe haben, warum er gerade diese Entscheidung getroffen hat. Mal wird der Arzt diese guten Gründe erfahren, mal werden sie im Dunkeln bleiben.

Im Empowerment-Modell ist Frau Abels Umgang mit ihrem Diabetes in Ordnung. Sie wird ihre guten Gründe haben, warum sie sich nicht mehr um ihren Diabetes kümmert. Vielleicht wird sie dies irgendwann einmal ändern, vielleicht auch nie. Diese Ungewissheit gemeinsam mit ihr auszuhalten ist hierbei die ärztliche Aufgabe. Bei der umfassenden Betrachtung ihrer Situation ist Frau Abel mit der Behandlung ihres Diabetes durchaus erfolgreich. Sie schafft es heftige Stoffwechselentgleisungen zu verhindern und geht zu ärztlichen Kontrolluntersuchungen.

Nach meiner Auffassung können Patienten mit einem Diabetes ruhig eine Akzeptanzstörung haben. Was sie aber unbedingt benötigen, ist eine Art Toleranz ihres andauernden Zustandes durch sie selbst. In Brockhaus und Wikipedia finden sich als Beschreibung für die Toleranz „Duldsamkeit“, „Geltenlassen und Gewährenlassen fremder Überzeugungen, Handlungsweisen oder Sitten“. Hiermit ist das erwünschte Verhältnis des Diabetespatienten zu sich selbst gut beschrieben.

Die aus geheimnisvoller Ursache erhöhten Blutzuckerwerte und die für die Besserung notwendigen Handlungen sind zu Beginn für alle Patienten fremd und bleiben es zu einem Teil auch für immer. Der Patient muss tolerieren, dass sein Körper die Fähigkeit zur eigenständigen Regulation des Blutzucker verloren hat. Er muss durch Maßnahmen von außen dafür sorgen, dass der Blutzucker nicht entgleist.

Das Verhältnis zwischen Frau Abel und mir hat sich im Verlauf deutlich entspannt, nachdem ich akzeptiert habe, dass sie ihren Diabetes nicht akzeptieren will. Zum Glück toleriert sie ihren Diabetes einigermaßen, denn sie spritzt regelmäßig Insulin und misst leidlich häufig ihren Blutzucker. Sie kommt seitdem häufiger in meine Sprechstunde und die leicht milchige Glasscheibe zwischen uns ist mittlerweile fast klar geworden.

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  1. Dieser Artikel gefällt mir außerordentlich gut. Besonders die Haltung des Arztes zu seiner Patientin. Nämlich die Akzeptanz der Würde seiner Patientin über ihr Verhalten selbst zu entscheiden, auch wenn ihr Verhalten im Sinne der heutigen Medizin als falsch oder als nicht angemessen vom Arzt beurteilt wird. Ich fragte mich allerdngs als Laie, was denn heftige Stoffwechselentgleisungen wären, an die der Arzt in ihrem Falle denkt. Die Frage beinhaltet auch, ob die Patientin sich der Risiken bewußt war, denn nur dann könnte sie selbstverantwortliche Entscheidungen treffen.
    Ich als Psychologin gehe davon aus, dass (fast) jegliches Verhalten sinnvoll, im Sinne von nachvollziehbar, wird und freue mich, dass Herr Klinge, für das Verhalten seiner Klientin sinnvolle
    erklärende Worte gefunden hat, die nachweislich, zu einer Verbesserung seiner Beziehung zu seiner Klientin geführt haben. Dadurch trägt seine Beratung zu einer hilfreichen Beziehung bei, die möglicherweise auch Veränderungen im Verhalten seiner Klientin begünstigen können..

    Carin Cutner-Oscheja vor 11 Jahren